Berliner Kneipen

Reportage und Porträts aus einem gefährdeten Biotop

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In Berlin geht zur Zeit manches vor die Hunde, und viele merken‘s gar nicht. Neben der zunehmenden Verschandelung durch Allerwelts-Architektur verschwinden nebenbei die typischen Berliner Kneipen – jedenfalls in einigen Bezirken. Eine Gaststätte an jeder der vier Ecken einer Strassenkreuzung gibt es zwar schon lange nicht mehr, aber totzukriegen war diese Institution bislang nicht. Zu finden sind Kneipen im Wedding, vereinzelt in Neukölln, sogar in Kreuzberg (wo die Nächte angeblich lang sind), in Charlottenburg soll‘s noch drei geben und mehrere im Friedrichshain. Dort lebt der Dichter und Fotograf Florian Günther und verbringt seine Zeit nicht ungern an diesen gastlichen Orten, in denen er für seine Gedichte – von denen einige als „soundtrack“ die Fotografien im Buch begleiten – den Stoff findet. In Kneipen sich aufhalten heisst, sich mit den anderen Gästen zumindest zeitweilig anzufreunden, zu reden, Schicksale kennen zu lernen.

Natürlich ist dieses „Biotop“ optisch interessant, aber mit dicker Kamera herum zu fotografieren, wäre kontraproduktiv. Selbst Florians kleiner Digitalknipse wird hin und wieder per vorgehaltener Hand der Zugriff verwehrt. Aber der Autor ist in dieser Szene so verwurzelt, dass man ihn gewähren lässt, sogar bereitwillig mitmacht.

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Wer die berühmte fotografische Reportage von Anders Petersen, Café Lehmitz, kennt, der mag die versunkene Hamburger Bierstube von 1969/70 mit den heutigen Verhältnissen in Berlin vergleichen. Mir scheint, Florian Günther ist hautnah dran, mit seinen Protagonisten auf Schulterschluss. Sicher möchte er das Milieu beschreiben, vor allem aber geht es ihm um die Menschen, mit denen ihn ganz offensichtlich grosse Vertrautheit verbindet. In der ersten Hälfte des Buches sind es vorwiegend s/w-Fotografien, auf denen mit flinkem Zugriff Situationen erfasst werden, Gestik festgehalten oder die Atmosphäre dargestellt wird, sogar Stilleben gibt es. Drei leere Barhocker am Vormittag erzählen viel von einem solchen Ort. Die Porträts dieses Teils haben Schnappschuss-Charakter.

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Im zweiten Teil des Buches folgen formale Bildnisse, jetzt in Farbe, und unterliegen einer Konzeption: alle stehen vor einer etwas ranzigen Wand, möglicherweise auf dem Gang zu den Toiletten. Dort entstehen Ganzkörperporträts und Brustbilder, manchmal ist ein Hund dabei oder ein Fahrrad. Die Einkaufstüte an der Hand bekundet: ich komme ja nur eben auf ein Bier vorbei. Nachdem der erste Teil in die Kneipenwelt „als solche“ eingeführt hat, sind wir nun aufgefordert, die Menschen näher kennenzulernen, den Hausmeister Hunde-Micha, den Schriftsteller Schappi, Heinz den Eisenbieger, den Müllwerker Grille, die Fernfahrerin Vera, Ergotherapeut Stephan, Tresenkraft Petra, den Selbständigen Ali, die Pflegehilfskraft Heike. Diese Porträts über einen starken Sog aus. Man beginnt, sich die Personen leibhaftig vorzustellen, sinnt über ihr Leben nach, vergleicht Kleidung und Haltung mit dem angegebenen Beruf. Einige ist man geneigt, „schräg“, vielleicht gar „kaputt“ zu nennen, ich aber bedaure, diese Menschen nicht zu kennen. Sie sind reell, zumindest reeller als die Prosecco-Klientel in den feineren Bezirken. Fast stellt sich Neid auf den Fotografen ein, zu derart ungewöhnlichen Menschen Zugang zu haben. Wie gut Florian Günther sie kennt und was er von ihnen mitnimmt, ist ausserdem in seinen Gedichten nachlesbar.

Fotografisch/stilistisch erscheint mir der erste Teil des Buches beachtlicher, eine Kneipentour (neben Petersen kommen mir noch Krass Clement und Thomas Kläber mit vergleichbaren Serien in den Sinn), inhaltlich ist der zweite Teil, das „Familienalbum“, eindringlicher.

Die Bilder sind ein Monument für übersehene Menschen und für eine hoffentlich nicht völlig untergehende Kneipen-Welt.

 

  • Titel: Genug Zeit zu verlieren
  • Untertitel: Neue Fotos, gebrauchte Gedichte
  • Bildautor: Florian Günther
  • Textautor: Florian Günther, Miriam Spies, Heyne Winterfeldt, Peter Wawerzinek
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Florian Günther
  • Verlag:  Edition Lükk Nösens und gONZo
  • Verlagsort: Berlin und Mainz
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: deutsch
  • Format: 23 x 17 cm
  • Seitenzahl: 256
  • Bindung: illustrierte Klappenbroschur
  • Preis: 24,80 Euro
  • ISBN: 978-3-944564-11-1

2 Antworten zu Berliner Kneipen

  1. Ein sehr schönes Buch, das zu den erwähnten Namen und zum Thema passt, ist auch “Weinhaus” (Edition Stemmle, 1999) von Leo Kandl. Dieser fotografierte von 1977-1984 für ein Langzeitprojekt vornehmlich in Wiener Kneipen.

  2. So gilt für die Analoge Fotografie gleiches auch für die Kneipen,Beide sind bedroht. Besonders die Fauna die die Kneipen animiert, dirigiert, leben lässt. Ich hatte aber den Eindruck dass eine neue Generation von “Kneipier” schon in die Offensive geht. Moabit, Wedding, Neukölln. Natürlich anders.
    Ich wollte damals eine Unterschriftensammlung starten um die Analoge Fotografie als Weltkulturerbe unter UNESCO Schutz zu deklarieren. Vielleicht wäre so was auch für die Kneipen gut.

    Liebe Grüße
    Gino