Blick zurück nach vorn

Seit 1990 arbeitet sich Jitka Hanzlová am Thema Heimat ab. Ihr Werk ist komplex und ziemlich beispiellos.

Hanzlova_Cover

Als die Tschechin Jitka Hanzlová 1982 nach Deutschland kam, waren ihre Aufstiegschancen denkbar schlecht. Die deutsche Sprache war ein ziemliches Rätsel für sie. Der abrupte Wechsel von ihrem beschaulichen Heimatdorf Rokytník in die raue Großstadt Essen kam einer Entwurzelung gleich. Und der Kontrast von Sozialismus zu Kapitalismus war ohnehin ein Kulturschock. Jitka Hanzlová, isoliert in der Fremde, suchte nach einem Weg, sich auszudrücken – und fand ihn in der Fotografie. Heute staunt man über die erfolgreiche Karriere der akademisch ausgebildeten Fotografin. Die 54-Jährige wird zurzeit mit einer Retrospektive in den Sälen der Fundación Mapfre, Madrid, gefeiert. Und die Kuratorin, Isabel Tejeda, entwickelte einen detektivischen Ehrgeiz, um Verbindungen zwischen Biografie und Werk herauszuschälen. Der Katalog zur Ausstellung mit dem Titel „Jitka Hanzlová” zeigt neun Serien und quillt über an biografischen Informationen. Was erfährt der Leser über Jitka Hanzlová, ihr Leben, ihr Werk? Eine Annäherung in vier Kapiteln.

Kapitel eins: „Rokytník” – Rückreise in das Heimatdorf.

Als 1989 der Eiserne Vorhang fällt, zieht es Jitka Hanzlová zurück in ihre ostböhmische Heimat. Ungeplant startet sie ihr erstes Langzeitprojekt, reist zwischen 1990 und 1994 unzählige Male von Essen nach Rokytník und porträtiert dessen Bewohner. Dabei erweist sich Jitka Hanzlová als überaus sensible Bildberichterstatterin. Sie erklärt das Dorf nicht für rückständig, verklärt es aber auch nicht. Vielmehr protokolliert sie dessen sanfte Melancholie. Statt auf die epische Breite des Querformats zu vertrauen, entscheidet sich Hanzlová für das Hochformat. Die Menschen wachsen nahezu in die Landschaft, und die Landschaft schließt sich um die Menschen. Sind Mensch und Natur, wie es die Bilder subtil transportieren, Teil einer untrennbaren sozialen Struktur? Selbst in der Erscheinung korrespondieren Landschaft, Objektwelt und Dorfleute miteinander: abzulesen ist das an den Farben, dem Beige der Häuser, den fahlen Interieurs und der blassen Haut der Kinder.

Kapitel zwei: „Bewohner” – Zufluchtsort Essen.

Gibt es geografische oder ästhetische Besonderheiten eines Ortes? Wie wirkt die Umgebung auf den Menschen zurück? Bereits bei „Rokytník” ist die Fotografin genau diesen Fragen nachgegangen. Und die Serie „Bewohner”, entstanden von 1994 bis 1996, bildet das Pendant dazu. Das Thema: Leben im städtischen Umfeld. Die Orte: Paris, Berlin, Köln – und vor allem die Wahlheimat der Fotografin: Essen. Während bei „Rokytník” alles in die offene Landschaft, in die Weite führt, tun sich bei „Bewohner” allenthalben Begrenzungen auf. Entsprechend näher rückt die Fotografin an ihre Sujets heran, entsprechend enger fasst sie die Bildausschnitte. Und auch in dieser Serie ordnet sie Stadtlandschaft und Porträts auf einprägsame Weise: überblendend in kühlblassen Hochformaten.

Kapitel drei: „Forest” – Wiederbelebung der Kindheit.

Über zehn Jahre arbeitete Jitka Hanzlová kontinuierlich an Porträts, bis ihr 2000 buchstäblich die Luft ausging. Instinktiv kehrte sie in ihr Heimatdorf zurück, wanderte, dachte nach, fand sich schließlich im Wald ihrer Kindheit wieder. Und in den kommenden fünf Jahren wird dieser zu ihrem neuen fotografischen Sujet. Mal zeigt Hanzlová den Wald als konkrete Landschaft, dann wiederum als mythischen Ort. Überhaupt unterstreicht sie das Märchenhafte, das Unwirkliche durch eine müde Farbigkeit, nur selten blitzen Farbakzente hervor. Die Serie „Forest” ist wie „Rokytník” eine fotografische Rückbesinnung auf die Kindheit, nur ist die Arbeit sehr viel verschlossener, geheimnisvoller.

Kapitel vier: „Hier” – Angekommen in der Fremde.

Jitka Hanzlová lebt bis heute in Essen, und es scheint ihr gelungen zu sein, sich mit dem Ruhrpott zu arrangieren. Mit der Serie „Hier”, entstanden 2003 bis 2010, richtet sie ihren Blick erneut auf ihre Wahlheimat. Doch anders als bei „Bewohner” ist ihr Blick jetzt milder, Essen ist längst auch Teil ihrer eigenen Identität geworden. Den Porträtierten lässt sie sprichwörtlich mehr Raum zum Atmen. Sie sitzen nicht länger abgekapselt und eingeengt in Cafés oder Küchen herum, sondern sind nun inmitten städtischer Grünflächen zu sehen. Die Studien von urbaner Landschaft, Natur und Menschen – und deren unleugbare Verknüpfung – sind metaphorisch lesbar, die Entschleierung ist nie ganz frei von Ironie.

„Der Weg, den ich gehe, ist ein Weg zurück, um in die Zukunft zu sehen”, sagt Jitka Hanzlová. In der Tat ist die Fotografin bis heute eine empathisch Suchende geblieben. Und man schaut ihr gern dabei zu, weil ihre Fotos subtil entlarvend sind. Hat man Soziotope je so dechiffriert gesehen? Wer bearbeitet ähnlich feinsinnig das Thema Heimat, Wurzeln? Jitka Hanzlová hat über die Jahre ein erstaunliches Repertoire entwickelt. Es gibt wenige Fotografen, die Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge gleichermaßen ausdrucksstark fotografieren können. Die Kuratorin Isabel Tejeda wollte das Mirakel ergründen und nervte die Fotografin mit Fragen wie: „Warum machen Sie das? Was bedeutet das?” Hanzlová ließ dies geschickt abtropfen: „Die Fragen verändern das Bild nicht, sie erklären es nicht.” In der Tat: Um die Fotos zu entschlüsseln, braucht man vor allem eines: hellwache Augen.

 

  • Titel: Jitka Hanzlová
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Jitka Hanzlová
  • Textautor: Isabel Tejeda, Jesús Carillo, John Berger, Terezia Mora, Zdenek Felix
  • Herausgeber: Isabel Tejeda, Fundación Mapfre, Madrid
  • Gestalter: Jitka Hanzlová, Juan Antonio Moreno
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg, Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2012
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 268
  • Bindung: illustriertes Halbleinen
  • Preis: 48 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-293-1

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