Comeback eines Klassikers

Paris zu Fuß von Roger Melis in einer Neuausgabe

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Paris war und ist sicherlich eines DER Traum-Reiseziele – nicht nur damals für die Bürger der DDR. Der Ostberliner Fotograf Roger Melis (1940-2009) durfte, sozusagen stellvertretend für viele, 1982 eine vierwöchige Reise nach Paris machen, die als „Studienaufenthalt“ deklariert war.* Man hatte einem erfahrenen und etablierten, nicht mehr ganz jungen Fotografen ermöglicht, seinen in der DDR geschulten und geschärften Blick auf eine Weltstadt zu richten so wie es auch Arno Fischer in New York getan hatte.**

1984 wurde die Druckgenehmigung für Paris zu Fuß mit 160 Motiven, ausgewählt aus „weit über tausend gemachten Aufnahmen“, beantragt. Der Verlagslektor Christlieb Hirte legte damals dem Ministerium für Kultur (neben den Andrucken der Bilder!) ein Gutachten vor, aus dem die Beweggründe genannt sind, warum dieses Buch in der DDR erscheinen sollte. Man muss dazu wissen, dass das Minsterium das Buch über die Versagung des für den Druck nötigen Papiers das Buch hätte verhindern können, also auf diese Weise eine Zensur ausübte. Hirte argumentierte folgendermaßen: „Neben der bildnerischen Sachinformation steht das subjektive Anliegen eines Fotografen, der erstmals die Chance bekommt, sein Können und seine künstlerische Sicht vor einem großen Publikum zu demonstrieren. Roger Melis … gehört zu einer jüngeren Generation von DDR-Fotografen, die sich in Auseinandersetzung mit internationalen Trends und Entwicklungslinien um einen eigenständigen und zeitgemäßen Stil bemüht, die es nicht immer leicht hat, gegen das Gestandene und gegen festgewordene Sehgewohnheiten anzukommen.“ Melis sei als unauffälliger Fußgänger, Flaneur würde besser klingen, „ein erstes Mal und für kurze Zeit mit einer fremden Stadt und einer fremden Kultur konfrontiert“ gewesen. Seine Bilder täuschten „weder Intimität noch Kennerschaft“ vor, „pittoreske Klischees“ mussten vermieden werden, „die Bilder enthalten vielmehr das ganze soziale Spektrum einer von sozialen Widersprüchen geprägten Stadt. Interessant allerdings wird die Repräsentanz der verschiedenen sozialen Schichten erst in deren Einbettung in das ihnen spezifische städtische Millieu. Daher hat Melis beim Fotografieren bestimmte Viertel und Straßen der Pariser Altstadt bevorzugt. Die gesichtslosen Neubauviertel, die kaum noch eine solche Millieuspezifik offenbaren, kommen im Buch nicht vor. Das mag als Informationslücke bemängelt werden, nur besteht der Fotograf aus guten Gründen auf das Recht, ein subjektives Paris-Bild zu erstellen und informative Pflichtübungen zu vermeiden…“*** Soweit Lektor Hirte; die Druckgenehmigung wurde erteilt und das Buch erschien 1986 mit einem Vorwort von Stephan Hermlin in einer Auflage von 20000 Exemplaren und 1988 nochmals in einer herstellungstechnisch fast identischen „Nachauflage“. Das großformatige Softcover wurde 1986 im Wettbewerb um die „Schönsten Bücher“ der DDR ausgezeichnet, obwohl die Druckqualität nicht eben gut war.

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Das originale Paris-Buch ist in jeder Hinsicht authentisch, sowohl hinsichtlich der in der DDR raren Bildsprache der „Street Photography“ als auch in der Umsetzung als Buch mit all seinen produktionstechnischen Mängeln bis hin zur seltsamen Covergestaltung. Warum also nun eine Neuauflage eines Titels, der problemlos im Antiquariat zu bekommen ist? Zunächst trägt die Lehmstedt-Produktion zwar den selben Titel wie das Original von 1986, ist aber, der Untertitel zeigt es schon, kein Reprint, sondern eine Nachschöpfung. Herausgeber und Gestalter Mathias Bertram strebte an, die Bilder von Melis aus den Zwängen zu befreien, in denen man sich zur Erlangung der Druckgenehmigung gefangen sah (wie er es in seinen beiden Texten beschreibt). Das Layout folgt dem Original nur sporadisch, Bildauswahl und Sequenz wurden verändert. Zum Beispiel hat Bertram das Schaufenster einer Robert-Frank-Ausstellung in der Galerie Delpire nun einem Melis-Foto gegenübergestellt, das an das Titelmotiv von The Americans (1959) erinnert. Es ist ein neues, nun 110 Motive umfassendes Buch entstanden, das einen frischen Blick auf Melis´ Paris erlaubt.

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Wer das unter den Bedingungen der DDR entstandene Buch kennen lernen möchte, muss also weiterhin auf das Original zurückgreifen. Wer die Fotos von Melis besser gedruckt und in einer anderen Auswahl und Abfolge sehen und sich zudem über die Entstehung des damaligen Werks informieren lassen möchte, wird sich zusätzlich die recht preisgünstige Neuausgabe zulegen. Diese wird im Übrigen nicht erst 2021 erscheinen, wie man seltsamerweise im Impressum liest, sondern ist schon heute auf dem Markt.

 

* Text von Melis auf der Umschlagrückseite der Originalausgabe von 1986

** Arno Fischer, New York Ansichten, Berlin: Volk und Welt, 1988, also im selben Verlag und vom selben Layouter (Jörg Brosig) gestaltet wie Paris zu Fuß.

*** Zitate aus der Druckgenehmigungsakte im Bundesarchiv Berlin

 

 

  • Titel: Paris zu Fuß – Paris by foot
  • Untertitel: Ausgewählte Fotografien – Selected photographs
  • Bildautor: Roger Melis
  • Textautor: Sonia Voss, Mathias Bertram
  • Herausgeber: Mathias Bertram
  • Gestalter: Mathias Bertram
  • Verlag: Lehmstedt Verlag
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 27,5 x 24,5 cm
  • Seitenzahl: 152
  • Bindung: Hardcover mit illustriertem Schutzumschlag,
  • Preis: 30 Euro
  • ISBN: 978-3-95797-114-2

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