Die Leica ist eine Kamera, die für die Geschichte der Fotografie seit 100 Jahren eine kaum zu unterschätzende Bedeutung als erstes Modell für den Kleinbildfilm hat (Bildformat 24 x 36 mm, bis heute auch in Digitalkameras für den „Vollformatchip“ gebräuchlich). Kameras aus dem Hause Leitz werden bis heute in Wetzlar entworfen und gebaut. Dass die Geschichte der Marke ein Alleinstellungsmerkmal ist, haben die Verantwortlichen bei Leica erkannt. Sie haben zuerst als diskreter Unterstützer der von Zehntausenden im In- und Ausland besuchten Wanderausstellung Augen auf! / Eyes wide open! einen nicht zuletzt durch den umfangreichen Begleitband nachhaltig wirkenden Coup gelandet, den man sowohl in fotogeschichtlicher als auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht sicherlich als gelungen bezeichnen darf. Um dieses Konzept langfristig fortzusetzen, wurde als Ergänzung der neuen Leica-Geschäfts- und Produktionsräume am Stadtrand von Wetzlar ein nach den Firmenpatriarchen Ernst Leitz (es waren deren drei…) benanntes Museum gegründet und mit allen Anforderungen gerecht werdenden Räumen und einem kleinen Stab engagierter Mitarbeiter/innen ausgestattet. Noch vor der Eröffnung wurde, sozusagen im Probebetrieb, die Ausstellung Augen auf! nochmals gezeigt, aber zur offiziellen Premiere sollte eine erste, speziell auf die neuen Räume zugeschnittene Eigenproduktion den Anspruch deutlich machen, den man in Hinsicht auf die Bildleistungen der Leicafotografie erheben kann.
Dr. Paul Wolff (1887-1951) und sein Mitarbeiter und Teilhaber Alfred Tritschler (1905-1970) verdankt die Leica einen ungemeinen Popularisierungsschub. Wolff erhielt 1926 seine erste Leica und begann sie im Folgejahr erst zögerlich, dann ausschließlich für seine professionelle fotografische Arbeit zu nutzen. Er schrieb Bücher über die Möglichkeiten des Kleinbilds, die halb Lehrbuch, halb Bildband waren und die riesige Auflagen erreichten. Derweil gab es kaum ein Sujet, für das die in Frankfurt ansässige Firma Dr. Wolff & Tritschler keine passende Bildlösungen anbieten konnte und es verwundert nicht, dass trotz Kriegsverlusten mehrere hunderttausend Negative im Bestand des bis heute bestehenden Bildarchivs erhalten blieben. Es erschien eine unübersehbar große Zahl an Publikationen, die entweder ausschließlich mit Bildern von Wolff, Tritschler und nicht immer namentlich genannten weiteren Mitarbeitern illustriert wurden oder für die man zumindest ein paar Bilder beigesteuert hatte. Die Ausstellung in Wetzlar macht die ungeheure Spannbreite deutlich, für die die Fotografenfirma stand.
Hans-Michael Koetzle, der schon für Augen auf! verantwortlich zeichnete, begann vor 20 Jahren, sich intensiv mit Dr. Wolff & Tritschler zu beschäftigen, damals sicherlich noch ins Blaue hinein und erst in den letzten Jahren mit dem Ziel vor Augen, die Premiere des Ernst-Leitz-Museums zu gestalten. Zu sehen gibt es nun neben Vintageprints aus Privatsammlungen und Archiven viele Originalpublikationen, wobei das Material in übersichtliche Kapitel gegliedert wurde. Diese folgen der Chronologie von Wolffs Lebensweg, er fing in Straßburg an und machte in Frankfurt weiter, und sind relevanten Themen gewidmet wie Natur (Pflanzen, Tiere, Landschaften), Menschen, Werbung, Tourismus/Lifestyle, Bildjournalismus und Industriefotografie. Sogar Wolffs Werk als Regisseur und Kameramann für dokumentarische Filme ist mit einer kleinen Auswahl von drei Kurzfilmen präsent. Das schwierige Thema Propaganda für das „Dritte Reich“ wird angerissen; Wolff und Tritschler gehörten zu den am besten beschäftigten Fotografen dieser Zeit.
Als Highlight ragt aus den vielen Originalabzügen ein Großformat heraus, wie es Wolff bzw. die Firma Leitz als Ausweis für die Leistungsfähigkeit der Leica und des Kleinbildfilms in Form von Wanderausstellungen rund um die Welt bis nach Japan schickte. Derzeit sieht es so aus, dass nur dieses eine Beispiel aus den vermutlich hunderten gerahmten Bildern von diesen Ausstellungstourneen übrig geblieben ist – ein Abzug von einem Meter Höhe, bei dem ein unten rechts montierter winziger Kontaktabzug den riesigen Vergrößerungsmaßstab andeutet. Zu sehen sind auch die originalen Kontaktbögen der ersten Leica-Aufnahmen, die Wolff für kommerzielle Zwecke verwendete.
Wolff und Tritschler waren nicht auf einen bestimmten Stil festzulegen. Wolff war sowohl an der die fotografische Avantgarde präsentierenden Ausstellung Film und Foto 1929 in Stuttgart beteiligt als auch mit Massenware wie Reiseprospekten oder Kalenderbildern am Markt vertreten. Die spätestens seit 1930 betriebene Fotografie für Firmenpublikationen (Kataloge, Festschriften, Werbung) wartet mit einer Besonderheit auf, denn Wolff und Tritschler inszenierten mit hohem Aufwand sowohl Maschinen als auch Mitarbeiter und überließen dabei nichts dem Zufall. Früh wandte man sich der Farbfotografie zu, wobei es hierzu in der Ausstellung allerdings keine Originalabzüge zu sehen gibt, weil man damals die Farben der Diafilme für den Druck umsetzte. Koetzle hatte die bestechend einfache Idee, einige von Wolffs Büchern auseinanderzunehmen, um gerahmte Doppelseiten so zu zeigen, dass ein Eindruck von dem gesamten Buch entsteht. Auf diese Weise und in einer Projektion zum Thema „zerstörtes Frankfurt“ ist auch die Farbfotografie präsent. Gedruckte Seiten sind ja ebenso zeitgenössische Originale wie Abzüge aus der Dunkelkammer, sie sind nur nicht so exklusiv… Bücher und andere Publikationen gibt es natürlich auch – in kleinen Vitrinen – als Objekte zu sehen. Eine weitere Projektion zeigt, wie Koetzle in drei von Wolffs Hauptwerken blätternd deren Konzeption, Ästhetik und Drucktechnik kommentiert. Zudem ergänzen fotografische Reproduktionen von Doppelseiten aus Drucksachen das visuelle Material. Die Ausstellung wurde so konzipiert, dass sie später mit nur geringen Veränderungen an anderen Orten gezeigt werden könnte.
Das Buch zur Ausstellung ist kein klassischer Katalog, auch wenn man vieles aus der Ausstellung dort wiederfinden kann. Ich muss spätestens hier gestehen, an diesem Band mit einem Beitrag beteiligt zu sein, es sei mir aber trotzdem gestattet, für die Konzeption, die Ausstattung und vor allem die dezente, aber mit überraschenden Feinheiten aufwartende Gestaltung (Alessandro Argentato) uneingeschränktes Lob zu finden. Das Buch lässt sich mit seinem Leinenrücken sehr gut greifen und aufschlagen, ist stabil, aber nicht zu schwer. Die passende ausgewählte Bebilderung der neun Aufsätze und der weiteren Beiträge stützt deren Argumentation in zwangloser Weise. Das Buch enthält ein immenses Quantum an bislang unbekanntem und unveröffentlichtem Material und besitzt eine gewisse Dramaturgie, indem man mit der Visualisierung der Arbeit der Fotografen und ihrer Einsatzgebiete beginnt und den Hauptteil mit dem 1944 zerbombten Firmensitz bzw. einem Foto der unveröffentlichten Autobiografie von Wolff enden lässt. Im Anhang folgt eine ausführliche tabellarische Biographie von Wolff und Tritschler (gemeinsam in einem Kapitel, kaum merklich sind die beiden Stränge aber durch unterschiedliche Grautöne zu unterscheiden!) sowie ein Verzeichnis von Bildveröffentlichungen aus der „Fachpresse“, vor allem wichtigen Fotozeitschriften und Fotojahrbüchern. Die abschließende Bibliografie hätte ich mir straffer organisiert gewünscht und auf Hauptwerke beschränkt, denn für das nächste Jahr ist ein weiteres dickes Buch angekündigt, das insbesondere das Ziel hat, den Blick auf die Veröffentlichungen von Dr. Wolff & Tritschler zu richten. Diese von Manfred Heiting konzipierte, unabhängig von dem Wetzlarer Projekt entstehende Arbeit soll die Perspektive von hunderten auf tausende Belege weiten.
Fazit: Die Wetzlarer Ausstellung und der auch in einer englischen Fassung erschienene schöne Begleitband rücken zwei Männer ins Licht, die zwar nicht vergessen, aber – vielleicht wegen ihres abschreckend umfangreichen Werks? – bislang nicht den Stellenwert gefunden hatten, den sie verdient hätten. Das zu ändern und neues Material zu präsentieren war die erfolgreich abgeschlossene Mission von Hans-Michael Koetzle. Es bleibt trotzdem noch Raum für die eine oder andere Spezialuntersuchung. Man darf gespannt sein, wie es mit der Aufarbeitung des Oeuvres von Dr. Wolff & Tritschler weitergehen wird.
Die Ausstellung im Ernst-Leitz-Museum Wetzlar ist bis zum 26. Januar 2020 zu sehen.
Fotos: TW
- Titel: Dr. Paul Wolff & Tritschler
- Untertitel: Licht und Schatten – Fotografien 1920 bis 1950, (englische Ausgabe: Light and Shadow – Photographs 1920 – 1950)
- Bildautor: Paul Wolff, Alfred Tritschler
- Textautor: Sabine Hock, Randy Kaufman, Hans-Michael Koetzle, Kristina Lemke, Günter Osterloh, Tobias Picard, Gerald Piffl, Shun Uchibayashi, Thomas Wiegand
- Herausgeber: Hans-Michael Koetzle
- Gestalter: Alessandro Argentato
- Verlag: Kehrer
- Verlagsort: Heidelberg / Berlin
- Erscheinungsjahr: 2019
- Sprache: deutsch oder englisch
- Format: 29,5 x 24,3 cm
- Seitenzahl: 464
- Bindung: illustriertes Halbleinen
- Preis: 78 Euro
- ISBN: 978-3-86828-880-3 (deutsch), 978-3-86828-881-0 (englisch)