Das Leben – eine Lotterie

Jim Goldberg erkundet in „Open See” die Wege von Migranten

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Glück oder Unglück – dazwischen können vierzehn unwirtliche Seekilometer liegen. Ob das Leben ein Traum oder Albtraum wird, hängt ganz davon ab, auf welchem Kontinent man geboren wurde. In Europa, wo reiche Eltern ihre Kinder mit Geschenken und Schokolade verhätscheln. Oder in Afrika, wo Erwachsene kaum wissen, wie sie sich und ihren Nachwuchs über den Monat bringen sollen. So jedenfalls sieht es Mohamed, geboren im Norden Marokkos; und so ähnlich empfindet das auch eine junge Nigerianerin, wegen ihrer Anmut von allen nur Beauty genannt. Beide entfliehen schließlich der Armut, begeben sich auf eine lange Reise – ohne Ausweis, ohne Visa, ohne Rückfahrschein. Der eine überquert die Straße von Gibraltar in einem maroden Boot; die andere ist vierzig Tage mit Flugzeug und Lastern nach Europa unterwegs.

Wie verzweifelt müssen Menschen sein, um ihre Heimat und ihre Familien zu verlassen? Um sich auf eine Odyssee zu begeben, deren Ausgang ungewiss ist? Dies sind Fragen, die Jim Goldberg keine Ruhe ließen. Über mehrere Jahre hinweg war der US-amerikanische Fotograf wiederholt in Ländern wie Bangladesch, Irak, Kongo, Senegal oder der Ukraine unterwegs. Länder, aus denen Menschen wegen Armut, Krieg oder Rassismus fliehen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Begonnen hatte er sein Projekt 2004 in Griechenland, einem Staat, in dem viele Migranten einen Neuanfang suchen und, ja, wenig willkommen sind. Mit seiner vierteiligen Buchreihe „Open See” gibt Goldberg den Flüchtlingen, die in den Medien oft nur als amorphe Masse erscheinen, vor allem eines: eine Stimme, ein Gesicht. Mohamed und Beauty, dies sind zwei exemplarische Flüchtlingsschicksale, die die italienische Autorin Amara Lakhous aufgezeichnet hat – und die im vierten und umfangreichsten Band der Reihe nachzulesen sind. Die Reise endet für beide in Italien, und sie endet unglücklich: Mohamed landet wegen Drogenhandels im Gefängnis, Beauty fristet ein trauriges Dasein als Prostituierte.

Auf weitere Texte verzichtet Goldberg, nicht aber auf seine eigene Art des Geschichtenerzählens, die wenig mit der gängigen reportagehaften oder dokumentarischen Fotografie gemein hat. Der Ansatz des 58-Jährigen, der seit 2006 zur Fotoagentur Magnum gehört, ist künstlerisch, experimentell und höchst unkonventionell. Warum sollten Menschen wie Mohamed oder Beauty ihre Geschichten nicht selbst erzählen, und vor allem: Wie macht man sie zu Mitspielern? – mit diesem Thema beschäftigte sich Goldberg lang. Sein Weg: Er gewinnt seine Protagonisten als Co-Autoren, überredet sie dazu, ihr Fotoporträt durch handschriftliche Gedankenskizzen oder Zeichnungen zu ergänzen – und dadurch überaus persönlich zu machen. Der einbeinige Toe schreibt: „I was rebel in war.” Eine junge Afrikanerin offenbart: „I am a whore.” Andere lassen ihre Narben sprechen mit dem nüchternen Hinweis: „Taliban torture me.” Diese Fotos, in der Regel Polaroids, sind jedoch nur ein Teil der mäandernden Collage, die Goldberg schließlich zusammenfügt. Er vermischt sie mit groß- und mittelformatigen Fotografien, Videostills, gefundenen Bildern und handschriftlichen Texten. Dabei erweist er sich als Meister der atmosphärischen Verdichtung: Porträts wechseln wild mit Straßenszenen, Interieurs und Landschaftsaufnahmen; Unschärfen, diffuses Licht, gedämpfte Farben, körnige Schwarzweißmotive verstärken den beklemmenden Grundton des Buches.

Wie seine älteren Buchprojekte „Rich and Poor” (1985) und „Raised by Wolves” (1995) handelt auch „Open See”, stark vereinfacht gesagt, von der obszönen Ungleichheit der Welt, von Träumen und Albträumen. Aber Jim Goldberg wirft vor allem andere Fragen auf. Wo liegen die Grenzen der zeitgenössischen dokumentarischen Fotografie? Wie lässt sich fotografisches Erzählen neu denken? Zugegeben: Mit „Open See” liefert Goldberg eine Erzählung, die höchst fragmentarisch ist – doch so schnell lässt sie einen nicht wieder los.

  • Titel: Open See
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Jim Goldberg
  • Textautor: Amara Lakhous
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Jim Goldberg
  • Verlag: Steidl (co-published with Foundation Henri Cartier-Bresson, Paris)
  • Verlagsort: Göttingen
  • Erscheinungsjahr: 2009
  • Sprache: englisch, französisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: Band 1-3: je 36 Seiten; Band 4: 136 Seiten
  • Bindung: Softcover, 4 Bände, Pappschuber
  • Preis: 40 Euro
  • ISBN: 978-3-86521-826-1

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