Die Hoffnung? Stirbt zuletzt!

Rafal Milach porträtiert junge Russen, die nur eines wollen: durchkommen.

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Es ist harte Kost, die Rafal Milach serviert. Die ersten 21 Seiten seines Buchs 7 Rooms gehören der weißrussischen Schriftstellerin Svietlana Alexievich. Es ist ein Extrakt aus ihrem 1993 erschienenen Buch »Enchanted by Death«. Man liest Geschichten von Selbstmördern und gescheiterten Suiziden. Da ist die Ingenieurin Svetlana, die nach Auflösung der Sowjetunion nicht nur ihren Job, sondern auch Mut und Selbstbewusstsein verliert und reine Essigessenz schluckt. Oder der junge Taxifahrer Vladimir, der von korrupten Polizisten immer wieder verprügelt wird, weil er sich hartnäckig weigert, sie zu schmieren; er schießt sich schließlich eine Kugel in den Kopf. Rafal Milach übernimmt die literarische Methode, aus einem Chorus individueller Stimmen eine Collage des tagtäglichen Lebens zu machen. Der polnische Fotograf gewinnt junge Russen für sein Fotoprojekt, führt mit ihnen Interviews und formt sieben fotografische Essays aus deren Lebensgeschichten. Bereits 2011 veröffentlichte er diese unter dem Titel 7 Rooms; nun liegt die zweite Auflage vor.

Der Gedanke drängt sich auf, dass Rafal Milach eine These für sich formuliert und dann die passenden Geschichten zusammenträgt, um diese zu untermauern. Die These: Das autoritäre Sowjetsystem ist untergegangen, aber der neue staatsgelenkte Kapitalismus hat die Menschen kaum glücklicher gemacht. Menschen wie Gala, Lena, Mira, Sasha oder Stas zum Beispiel. Sie bewegen sich in der unteren Mittelschicht, nie ganz vorm Absturz gefeit; sie schlagen sich durch als Journalisten, Internetfrickler, Drag-Queens, und alle eint eines: Sie haben als Kinder die Endzeit des kommunistischen Regimes erlebt. Und die Erinnerungen daran, so kann man den Interview-Sequenzen entnehmen, sind nicht durchweg schlecht. Was ihnen heute fehlt? Der Gemeinschaftssinn, die Übersichtlichkeit. Wenn man die Stimmungslage der Protagonisten beschreiben würde, es liefe auf Resignation hinaus. Und das kommt nicht von ungefähr. Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit: Präsident Putin hat vielleicht nichts davon versprochen, aber viele Russen hatten genau darauf gehofft. Und hoffen bis heute.

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„Der Zusammenbruch des (sowjetischen) Staates war auch ein Zusammenbruch der Zivilisation“, dieser Meinung ist der ukrainische Fotograf Boris Mikhailov, der seit Jahrzehnten den Postkommunismus und dessen Folgen dokumentiert. So etwas würde Rafal Milach nie behaupten. Aber der 35-jährige Fotograf setzt dem auch nichts Positives entgegen. Er zeigt junge Menschen, die sich in ihren privaten Kosmos zurückgezogen haben, sich mit den Umständen arrangieren; dabei kämpft jeder für sich allein. Was erzählt Milach nicht? Geschichten wie die des jungen Bloggers Alexej Nawalny, der einer der bekanntesten oppositionellen Aktivisten ist. Oder die Story des knapp 30-jährigen Ilja Jaschin, einem der mutigsten Politiker der Opposition.

Glasnost, Perestroika: die junge Generation, die sich davon eine wirkliche Wandlung versprach, ist vielleicht nicht so homogen wie Milach sie zeigt. Doch ein Verdienst ist unbestritten: Während die Fotografin Anna Skladmann jüngst die Kinder superreicher Russen porträtierte und sich Boris Mikhailov ganz den Gestrauchelten verschreibt, den Obdachlosen, Alkoholikern und Armen, konzentriert sich Milach auf eine andere Gruppe: die der Durchschnittlichen, Unauffälligen, Angepassten. Deren wenig spektakulären Geschichten sind bei Journalisten und Bildreportern nicht eben gefragt; sie entsprechen einfach keinem Stereotyp.

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  • Titel: 7 Rooms
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Rafal Milach
  • Textautor: Svietlana Alexievich
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Ania Nalecka, Tapir Book Design
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg, Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2013 (2. Auflage)
  • Sprache: englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 152
  • Bindung: Hardcover (Kunstleder)
  • Preis: 39,90 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-265-8

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