Die wenig bekannte Avantgarde

Tschechische Fotografie 1948 – 1968

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Die kleine Tschechische Republik hat möglicherweise die grösste Dichte an bedeutenden Fotografinnen und Fotografen weltweit. Das ist aber immer noch – dabei ist die Zeit des „eisernen Vorhangs“ bereits eine Generation her – recht wenig bekannt. Dem setzen die Kunstsammlungen Chemnitz eine umfangreiche Ausstellung (noch bis zum 26. Februar 2023) und einen vorzüglichen Katalog entgegen, um „einen breiten Überblick über die zentralen Positionen der Nachkriegszeit zwischen Surrealismus, Poetismus und Reportage“ zu geben.

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Es beginnt mit dem Brünner Surrealisten Vilém Reichmann. Der Surrealismus reicht in der Tschechischen Republik weit länger und alle Künste umfassende Stilrichtung als die ursprünglich 1921 in Frankreich begründete Bewegung bis in die Gegenwart hinein. Reichmann sah auf den Brünner Strassen die Folgen der Zerstörung durch die Deutschen und verwandelte sie in seine eigene Bildwelt: „Verwundete Stadt“ nannte er die Serie. Absurde Fundstücke aus der Wirklichkeit beschäftigten ihn weiter. Am Ufer eines kleinen Flusses Drähte und Reste von Stoffen, woraus die Serie „Königsdramen“ entstand. Gern gab er seinen Bildern eigenwillige, auch humorvolle Bildtitel (bisweilen erinnernd an Bildtitel, wie sie Paul Klee erfand): „Begegnung mit sich selbst“, „Blühende Lippen“. Vertraute Dinge der Wirklichkeit werden von Reichmann in eine andere Form umgesetzt, sie erhalten einen neuen Sinn.

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Noch eindeutiger dem Surrealismus zugeneigt ist die Pragerin Emila Medková, was sich teilweise aus ihrer Zusammenarbeit mit ihrem Mann, dem Maler Mikuláš Medek ergab, ihrer Mitwirkung in mehreren Künstlergruppen und ihrer Bewunderung für die Malerin Toyen. Zu Beginn kreierte Medková ihre Bilder aus Fundstücken, die sie collagierte. Ein Glasauge auf einem Stück Teerpappe wird zu einem menschlichen Profil. Inszenierungen sind darauf aus, Traumwelten zu evozieren. Später gelangte sie zur nicht manipulierten Fotografie. Die Wände von Prag und gefundene Objekte bestimmten nun in strenger Aufsicht ihre Bilder. Das Surreale ergibt sich aus dem Bildgegenstand selbst und benötigt keine weiteren Zutaten. Die Formen und Objekte bleiben autonom und ihre Fotografien sind somit nüchterner als Reichmanns Imaginationen. Wenn jedoch auf einer Wellblechwand, kaum erkennbar, das Wort „Zorro“ erscheint und zum Bildtitel wird, dann haben wir den surrealistischen Blick pur.

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Josef Sudek ist wirklich ein Titan und weltberühmt. Doch er war keineswegs abgehoben, und der Text zur Bildstrecke versucht herauszuarbeiten, wie Sudek mit den Gegebenheiten seiner Zeit auskam. Um seinen Lebensunterhalt nicht zugefährden, war er auf Kontakte mit dem Künstlerverband und anderen dem Staat verbundener Stellen angewiesen. Dennoch gelang es ihm, seine künstlerische Autonomie zu bewahren. Sudeks Porträts und Landschaften, seine Panorama-Aufnahmen und die Interpretationen zeitgenössischer Plastik blieben in Chemnitz aussen vor. Die Beispiele im Bildteil zeigen insbesondere, wie sehr ihm eine poetische Sicht auf die Welt eigen war. Er fand diese Sujets etwa im Garten seines Freundes Rothmayer oder „Beim Spaziergang im Garten der Frau Bildhauerin“, manchmal genügte ihm ein Blick aus seinem Hinterhof-Häuschen oder er machte Stilleben vom Chaos auf seinem Schreibtisch. Sudek war ein Poet, seine Sprache das Licht, er war Lichtbildner im Wortsinn.

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Jan Svoboda hat leider erst posthum eine grosse Retrospektive erhalten. Der Titel lautete „Ich bin kein Fotograf“. Er wollte die Grenzen des Mediums durchbrechen.Tatsächlich stellt Anna Farova Svobodas Arbeiten in die Nähe der Klassiker der Malerei. Keinesfalls aber gab es Nachahmungen von Malerei, auch wenn seine Arbeiten Verortungen in künstlerischen Richtungen nahe legen: Arte Povera, Minimalismus, Informel. Eine intensive Beschäftigung mit moderner Kunst fand jedoch statt. So fertigte Svoboda eindrucksvolle Interpretationen etwa der Arbeiten von Stanislav Kolíbal oder Zdeněk Palcr. Mit Josef Sudek war er im fotografisch-bildnerischen und geistigem Austausch. Die beiden einte das Streben nach höchster Qualtät. Minimalistische Bildinhalte mit verhaltenen Grautönen bestimmten Svobodas Baryt-Prints. Er brachte sie mit selbstgekochtem Knochenleim auf Hartfaserplatten auf, die Rückseite bekam Drahtbügel, so dass die Bilder beim Anbringen auf der Wand einen Abstand erhielten. Sie schwebten wie Objekte vor dem Hintergrund.

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Die letzten Seiten des Katalogs zeichnet eine völlig andere Energie aus. Josef Koudelkas – auch er weltberühmt – Reportage vom Einzug der sowjetischen Truppen im August 1968 in Prag trifft uns mit ganzer Wucht. Emotional tief bewegt aber mit hoher künstlerischer Konzentration bannte Koudelka das Geschehen auf 200 Kleinbildfilme. Er ging mit grosser Anteilnahme und dabei mit unglaublich präziser Gestaltung vor. Der vormalige Theaterfotograf nutzte sein einschlägiges Können. Es scheint, als ob wirklich ganz Prag – Jugendliche und alte Männer, Hausfrauen, Arbeiter, Angestellte in korrektem Anzug – auf den Beinen gewesen wäre, um den Eindringlingen unisono entgegen zu rufen „Russen, zieht ab nach Hause“. Erst 2008 wurde die Reportage in vollem Umfang publiziert. Hier ist ein kleiner, aber beeindruckender Teil zu sehen. Es ist für mich der ultimative fotografische Bericht eines bedeutenden Zeitgeschehens.

Der Katalog ist – auch durch seine prägnanten, aufschlussreichen Texte – eine gute Grundlage für weitere intensive Beschäftigung mit der erstaunlichen tschechischen Foto-Szene.

 

  • Titel: Zwischen Avantgarde und Repression
  • Untertitel: Tschechische Fotografie 1948 – 1968
  • Bildautor: Josef Koudelka, Emila Medková, Vilém Reichmann, Josef Sudek, Jan Svoboda
  • Textautor: Frédéric Bußmann, Helena Koenigsmarková, Jan Press, Philipp Freytag, Lenka Bydžovská, Hana Buddeus, Katarína Mašterová, Sina Tonn
  • Herausgeber: Frédéric Bußmann; Philipp Freytag; Kunstsammlungen Chemnitz
  • Gestalter: Simone Antonia Deutsch, Nele Bielenberg, Michaela Klaus
  • Verlag: Sandstein Verlag
  • Verlagsort: Dresden
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: deutsch
  • Format: 28 x 22 cm
  • Seitenzahl: 200
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 39 Euro
  • ISBN: 978-3-95498-712-2

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