Fotografie als spontaner Rausch

Simone Kappeler 1981 unterwegs in Amerika

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Beim ersten Durchblättern könnte man meinen, dass Simone Kappeler hier den Bildausschuss ihrer Amerikareise 1981 versammelt hat. Unscharfe, teils überbelichtete, teils unterbelichtete, jedenfalls sehr oft sehr banale Alltagsmotive: Leute ohne Kopf, Füße oder ohne beides. Verwackelte Landschaften, schräge und tief liegende Horizonte, stürzende Linien, verlassene Weiten, forcierte Nähe, trostlose Architektur, unbekannte Menschen im Gegenlicht, auf Straßen, in Parks, am Strand, in Städten, Vororten, dramatisches Wetterleuchten, öde Diners, langweilige Motels. All diese Dinge, die kein „normaler“ Tourist fotografieren und in sein Album einkleben, sondern aussondern würde.

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Simone Kappeler, 1952 in Frauenfeld/Schweiz geboren, reist 1981 mehrere Monate mit einer Freundin im Auto durch die USA. Von New York aus unternehmen sie zunächst einen Abstecher nach Kanada, dann fahren beide kreuz und quer an die Ostküste, nach Los Angeles und San Franzisko. Kappeler hatte zuvor an der ETH Zürich Fotografie studiert und das Handwerk gründlich erlernt. Was tun mit dem erworbenen Wissen? Auf einer Reise durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten die unbegrenzten Möglichkeiten der Fotografie erkunden. Berauscht von den neuen Eindrücken fotografiert Kappeler drauflos mit Polaroids, Dianas und anderen Billigkameras, die sie unterwegs erwirbt, aber auch mit ihrer Spiegelreflex und der Plattenkamera im Gepäck. Schwarzweiß gehörte noch zum „guten Ton“ künstlerischer Fotografie. Ohne Schwarzweiß aufzugeben, entscheidet sie sich für den bewussten Einsatz von Farbe. Hierin folgt sie William Eggleston, wie viele andere ihrer Generation. Reise als Befreiung, Fotografie als Befreiung. Wie die modernen Maler erst akademische Techniken aus dem FF zu beherrschen lernten, um dann alles abzuschütteln, sich den „Primitiven“ zuwandten, der Abstraktion verschrieben, den Farb- und Formexperimenten, so hat auch Kappeler das Gelernte erst einmal ad acta gelegt, um die Möglichkeiten der Fotografie gründlich auszuloten. Fotografie als Erfahrung, als Horizont erweiternder Trip zu sich selbst, als spontaner Rausch. Das Unperfekte kultiviert Kappeler perfekt als Programm.

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Die überwiegend quadratischen Fotos in diesem Band sind chronologisch angeordnet, von Ende April bis Ende Juli 1981. Auf schwerem Hochglanzpapier gedruckt, hat das Buch den angenehmen und passenden Charme damaliger Kunstbände. Mit der Veröffentlichung der alten Reisebilder kehrt die mehrfach ausgezeichnete Fotografin wieder an den Beginn ihrer Laufbahn zurück, als noch alles vor ihr lag. Dieses Buch ist somit ein bemerkenswertes Dokument von künstlerischer Selbstfindung und Haltung in der Fotografie.

  • Titel: America 1981
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Simone Kappeler
  • Textautor: Peter Pfrunder
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Markus Bosshard
  • Verlag: Scheidegger & Spiess
  • Verlagsort: Zürich
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: deutsch
  • Format: 34,5 x 25 cm
  • Seitenzahl: unpaginiert (256)
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 68 Euro
  • ISBN: 978-3858816795

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