Fotografierte Archive, fotografische Archive

Drei Bücher zu einem Themenkomplex

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In den letzten Monaten fielen drei Fotobücher auf, die auf unterschiedlicher Weise das Thema des Archivs behandeln: als Einblicke in schier unglaubliche Aktenlabyrinthe (Dayanita Singh), als Hort von Material zur Veränderung von Kulturlandschaften (Schlieren/St. Moritz) und als Resultat der Beschäftigung mit einem umfangreichen Fotografennachlass aus der DDR (Reinhard Mende).

Wo hin man auch blickt: Akten in Säcken, Bündeln, Schränken, Regalen, Stapeln… und hin und wieder Leute, die in den düsteren Ablagen zu schaffen haben. Solche in Indien gefundenen Archetypen analogen Archivierens stellt Dayanita Singh in ihrem neuen Fotobuch vor. Es wurde schwarzweiß, in einem quadratischen Format und mit dem vorhandenen Licht fotografiert. Die Reihung der Aufnahmen in drei durch Texteinschübe („Forest of Paper“, „Sea of Files“, „Paper Dust“) getrennte Kapitel erzeugt eine ambivalente Atmosphäre. Einerseits scheint wirklich alles aufgehoben worden zu sein. Archive und der Zugang zu diesen waren schon immer ein Politikum, eine Frage der Macht. Andererseits vermitteln die Fotos von Singh über die indische Situation hinaus ein Zweifeln am Prinzip der Ordnung. Ist das sinnvoll? Wer soll sich da zurechtfinden? Geht hier alles mit rechten Dingen zu? Was würde passieren, wenn Feuer oder Wasser die Dokumente vernichteten? Das faszinierend schlichte, doppelbödige Buch ist nicht nur eine Augenweide, sondern evoziert auch Fragen nach Sinn und Funktion von Archiven. Es erschien ergänzend zu Singhs Beitrag für den deutschen Pavillon der Biennale Venedig 2013. Laut Verlagsangaben gibt es das Buch in zehn verschiedenen Einbandfarben.

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Warum wohl praktisch alles fotografieren wird, selbst banale Straßenkreuzungen, langweilige Neubauten oder alltägliche Landschaftsausschnitte? Wo bleiben die vielen Aufnahmen, welchen Nutzen könnten sie später noch haben? In der Schweiz läuft dazu schon längere Zeit ein Projekt, das die Erfassung des „benutzten“ Siedlungsraums von Schlieren, einem Vorort von Zürich, und St. Moritz anhand von bereits vorhandenen Fotos aus der Zeit seit 1945 zum Ziel hat. Diese fanden sich durch Recherchen in den Bildspeichern vor Ort: bei Architekturbüros und anderen Firmen, Verlagen, bei privaten Sammlern, Museen, Bibliotheken und selbstverständlich den lokalen Archiven. Im Buch werden diese Aufnahmen aus beiden Orten gemeinsam präsentiert: oben Schlieren, unten St. Moritz. Ob sich die beiden Orte überhaupt vergleichen lassen, ob sich die Bildauswahl Doppelseite für Doppelseite befruchtet und ob diese Kombinationen einen Erkenntnisgewinn zum mal so, mal anders fortschreitenden Urbanisationsprozess ergeben, der über das Lokalgeschichtliche hinausgeht? Die Häuser werden häßlicher, die Straßen breiter, die Zahl der Autos nimmt zu, die freien Flächen nehmen ab. Das war zu erwarten und ist für beide Orte problemlos ablesbar. Die Zielgruppe des Buches ist laut Verlagswerbung folgendermaßen umrissen: „Für Praktiker und Lehrende in Architektur und Städtebau, Raum- und Landschaftsplanung, Kultur- und Sozialwissenschaften, Ethnologie und Alltagsgeschichte, Foto- und Kunstgeschichte, Bild- und Medienwissenschaften.“

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Das Archivieren selbst wird anhand des Werks des in der DDR freiberuflich tätigen Fotografen Reinhard Mende (1930-2012) thematisiert. Mende war u.a. in Zusammenhang mit der Leipziger Messe in zahlreichen Betrieben der sozialistischen Planwirtschaft unterwegs. Sein umfangreiches Archiv diente als Ausgangspunkt für eine Ausstellung und einen Begleitband. Durchgehendes Merkmal des dicken Buches ist die auf der jeweiligen linken Seite zu findende Darstellung von knapp 20000 Einträgen aus dem Archiv des Fotografen mit Nummern, Titel und manchmal einem winzigen Bildchen. In der Mitte des Buches findet sich eine „Sequenz“ ausgewählter Motive in ganzseitiger Wiedergabe. Diese Bildseiten scheiden das Buch in einen Abschnitt, der von der DDR, von der Planwirtschaft, von dem Ost-Design etc. handelt von einem zweiten, in dem künstlerische Positionen zu ähnlichen mit der DDR verbundenen Themen vorgestellt werden (u.a. von Sven Johne, Olaf Nicolai oder Malte Wandel). Das sowohl von den Sujets als auch im Umfang an der riesigen Menge an Fotos in Mendes Archiv orientierte Buch ist sehr komplex und nicht einfach zu durchschauen – und entspricht damit dem Wesen vermutlich jedes Fotografennachlasses. Abzuwarten bleibt, ob die Aufarbeitung des Werks dieses für die DDR eher untypischen Fotografen für eine im Buch beschriebene Datenbank die weitere Nutzung des Archivs beflügeln wird. Der Hinweis auf die weiterführende, auch die Ausstellung dokumentierende Website, die ein Erschließungssystem für viele? oder alle? archivierten Bilder vorschlägt, ist jedenfalls im Impressum des Buches gut versteckt.

Durch Ausstellung und Buch vorbereitet werden Mende Arbeiten inzwischen als großformatige Abzüge vermarktet, auch das ein – selbstverständlich legitimer – Weg, wie man mit einem Bildarchiv umgehen kann: „Die Fotografien von Reinhard Mende kosten 2400 Euro. Auflage je 15.“ (FAZ, 21.7.2013).

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  • Titel: File Room
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Dayanita Singh
  • Textautor: Aveek Sen, Interview mit der Künstlerin von Hans Ulrich Obrist
  • Herausgeber: Dayanita Singh, Walter Keller
  • Gestalter: Dayanita Singh mit Rukminee Guha Thakurta
  • Verlag: Steidl
  • Verlagsort: Göttingen
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Sprache: englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 88
  • Bindung: Leinen mit montierter Abbildung
  • Preis: 30 Euro
  • ISBN: 978-3869305424
  • Titel: Auf Gemeindegebiet
  • Untertitel: Schlieren – Oberengadin. Fotografien zum räumlichen Wandel im Mittelland und in den Alpen seit 1945
  • Bildautor: (diverse)
  • Textautor: René Hornung, Werner Huber, Christian Schmid, Meret Wandeler
  • Herausgeber: Ulrich Görlich, Meret Wandeler
  • Gestalter: Hi (Megi Zumstein & Claudio Barandun)
  • Verlag: Scheidegger & Spies
  • Verlagsort: Zürich
  • Erscheinungsjahr: 2012
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 176
  • Bindung: illustriertes Hardcover mit Banderole für die Einbandrückseite
  • Preis: 68 Euro
  • ISBN: 978-3-85881-347-3
  • Titel: Doppelte Ökonomien
  • Untertitel: Vom Lesen eines Fotoarchivs aus der DDR. 1967-1990
  • Bildautor: Reinhard Mende (und andere)
  • Textautor: (diverse)
  • Herausgeber: Doreen Mende, Estelle Blaschke, Armin Linke
  • Gestalter: Laure Giletti, Werkplaats Typografie
  • Verlag: Spector Books
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 448
  • Bindung: illustriertes Softcover
  • Preis: 36 Euro
  • ISBN: 978-3-940064-46-2

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