Heile Welt? Woanders vielleicht!

Der Fotograf Chris Shaw interessiert sich nur für eines: das antibürgerliche Milieu

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Zwei Mülltonnen schweben in der Luft, eingerahmt von unwirklich schönen Cumuluswolken: Diese surreale Bildkomposition des Fotografen Ikko Narahara brannte sich fest – und zwar im Kopf von Chris Shaw. Fortan war dem Briten klar, wofür es sich zu leben lohnt: die Fotografie. Kurze Zeit später, 1986, lebt er bereits im südenglischen Farnham, ist am College eingeschrieben und lässt sich dort von den heutigen Starfotografen Martin Parr und Paul Graham das Metier erklären. Die Schlüsselwerke und Stilmittel seiner Idole, Masahisa Fukase, Eikoh Hosoe, Daido Moriyama und Shomei Tomatsu, kann er im Schlaf runterbeten. Und eines will er ganz sicher: ähnlich exzentrische Fotos machen.

In seinem aktuellen Buch »Before and After Night Porter« zeigt Shaw ausgewählte Fotoserien – und man kann sich darüber ein Urteil bilden, ob der 46-Jährige eines vermeiden konnte: plumpe Plagiate zu produzieren.

Die erste Serie »Sandy Hill Estate« entsteht 1986 bis 1989 noch in Farnham. Monatelang hatte Shaw nach einem Thema gesucht, das mit seinem rauen fotografischen Stil perfekt korrespondiert. Da entdeckt er das Arbeiterviertel Sandy Hill Estate. Und das ersehnte Sujet ist da. Männer und Autos, Jungs und BMX-Räder: in Sandy Hill passt dazwischen kein Blatt Papier. Coolness beherrscht jede Szene. Einzig ein deutscher Schäferhund verliert hier die Contenance. Shaw beobachtet alles genau, aber er macht dies nicht mit dem überheblichen Blick eines Kulturbürgers, dem solche Soziotope kalte Schauer über den Rücken jagen. Shaw, der selbst in eine Arbeiterfamilie groß geworden ist, schaut ungemein neugierig auf die skurrile Szenerie. Und legt in seine Mamiya-Kamera stur Schwarz-Weiß-Filme ein. Mutig ist das allemal: Während seine College-Lehrer, Parr und Graham, sich komplett der Farbfotografie verschrieben haben, setzt Shaw selbstbewusst auf das Gegenprogramm.

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Jahre später, 1992, ist Shaw von einem bürgerlichen Leben noch meilenweit entfernt. Seine Brötchen verdient er als Nachtportier – in mittelklassigen Londoner Hotels. Seine billige Centon-Kamera hat er immer dabei. Einen kruden Kosmos zeigt er jetzt: Kerle im Koma, die ihren Rausch direkt auf dem Hotelflur ausschlafen; Nutten, die ihre Kunden im Halbstundentakt bedienen. An der Ästhetik der Fotos hat sich kaum etwas verändert: schwarz-weiß, kontrastreich, körnig, unscharf. Und da das alles noch nicht reicht, entwickelt Shaw die Fotos auch noch schlampig in der Dunkelkammer und beschriftet die Abzüge mit ironischen Kommentaren

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Dann, 2006, driftet Shaw in kopfige Konzepte ab. Porträts sind nun nicht länger sein Ding. Er kehrt zurück in seine Heimatstadt Wallasey – und streift durch die Docks. Längst haben chinesische Konsortien hier das Ruder übernommen und ziehen Industrie- und Bürokomplexe hoch. Shaw geht es nun um das große Ganze: „The battle between industry and nature as reflected in my hometown”, dies schreibt er auf seiner Website dazu. Die Serie »Weeds of Wallasey« enthält düstere Bilder – von Bäumen, Büschen, Gräsern, die sich selbst an den unwirtlichsten Orten ins Leben kämpfen.

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Man kann Chris Shaw einiges ankreiden: dass seine Konzeptionen nicht immer aufgehen, dass er zu dick aufträgt und sein Stil ab einem gewissen Punkt zu nerven beginnt. Aber verglichen mit den braven Erzählungen junger, nachrückender Fotografen macht er eines garantiert: einen wirklichen Unterschied.

 

  • Titel: Before and After Night Porter
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Chris Shaw
  • Textautor: Simon Baker
  • Herausgeber: Inès de Bordas, Simon Baker
  • Gestalter: Kehrer Design (Anja Aronska)
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg, Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2012
  • Sprache: englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 144
  • Bindung: Hardcover, illustrierter Schutzumschlag
  • Preis: 39,90 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-321-1

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