Helmut Gernsheim

„Verfasser der beinahe ersten Geschichte der Fotografie überhaupt“*

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Der Fotograf Helmut Gernsheim (1913-1995) gilt als einer der Väter der Fotogeschichtsschreibung. Als manischer Sammler alter Fotos, von Alben, Büchern und Apparaten schuf er sich selbst die Materialbasis, die über die Beschäftigung mit Einzelaspekten (Bücher zu Lewis Caroll, Julia Margaret Cameron, Roger Fenton) hinaus in eine Gesamtdarstellung einmündeten. Gernsheim waren die Bildleistungen wichtiger als die technischen Fortschritte, die vorher im Mittelpunkt der fotgeschichtlichen Werke z.B. von Eder oder Stenger standen. Man vergisst leicht, dass 1955, als Gernsheims Hauptwerk über die ersten hundert Jahre der Fotografie erstmals erschien, heute als selbstverständlich geltende Grundlagen noch nicht gelegt waren.

Leider wird dem Leser des hier zu vorzustellenden Buches die sicherlich schöne Geschichte vorenthalten, wie Gernsheim das älteste Foto der Welt fand. Über die Reproduktion eines Ausschnitts aus einem 1952 erschienenen Artikel (S.44) hinaus hätte man diese gern, sozusagen als Bericht aus den glücklichen Pioniertagen, abgedruckt gesehen, am besten aus der Feder Gernsheims selbst. Dafür zählt Allan D. Coleman unter Nennung neuerer Werke auf, wie wenig seit Gründerfiguren wie Gernsheim und seinem Antipoden Beaumont Newhall an Grundlagenforschung geleistet worden sei (S.63ff.). Es sollte inzwischen auch dem unkritischten Bewunderer Gernsheims klar sein, dass es in der Fotogeschichte nicht mehr darum gehen kann, jenen berühmten schemenhaften Blick aus Niepces Fenster durch den Fund eines noch älteren Lichtbildes zu übertrumpfen.

Claude W. Sui registriert in seinem einleitenden Beitrag die Wertsteigerungen der Gernsheimschen Sammlungen (S.24f.), die in den sechziger Jahren auch in Deutschland wie Sauerbier angeboten wurden, aufgrund der mit der Übernahme verknüpften Bedingungen aber weder in Köln, Essen oder München eine Heimat fanden, sondern nach Amerika und Schweden gelangten. Das Problem des deutschen „Centrums für Photographie“, mit dem sich Berlin quälte, hätte sich womöglich entweder gar nicht gestellt, wenn eine der genannten Städte um die Gernsheimsche Sammlung und die jeweils schon vorhandenen Bestände herum eine entsprechende Institution etabliert hätte.

Ein Teil des Nachlasses war noch zu haben, nämlich der zeitgenössische, d.h. eine Kollektion von Prints jüngerer, im 20.Jahrhundert angesiedelter Fotokünstler. Dazu kommt eine stattliche Anzahl an Büchern und Gernsheims persönlicher Nachlass an Korrespondenzen etc. sowie das Archiv seiner eigenen Werke als Fotograf. Das Mannheimer Reiss-Engelhorn Museum konnte diese Dinge 2002 für sich und sein „Forum Internationale Photographie“ sichern.

Der zur Präsentation von Gernsheims Fotosammlung in Mannheim erschienene Begleitband hat zweierlei Funktionen zu erfüllen. Zunächst soll er die Ausstellung dokumentieren. Sodann geht es selbstverständlich um die Würdigung des Sammlers. Das Buch heißt nicht „Fokus Mensch“ wie die Ausstellung, sondern „Helmut Gernsheim – Pionier der Fotogeschichte“, was allein den Charakter als Festschrift deutlich macht. Die in Mannheim gezeigten Werke werden immerhin Stück für Stück in Bild und einer kurzen Beschreibung (nicht von Gernsheim himself, dafür kenntnisreich und präzise von Nina Schleif) präsentiert. Abgesehen davon, dass die Exponate aus einer Sammlung, nämlich der von Gernsheim, stammen und Menschen in fotografisch-künstlerischer Weise dargestellt sind, verbindet die Aufnahmen allerdings nicht viel. Folgerichtig werden die Fotos alphabetisch nach den Namen ihrer Autoren abgehandelt (von Allen bis Wolf). Der eigentliche Hauptteil des Buches ist Helmut Gernsheim und seiner fotohistorischen Arbeit gewidmet. Es kommen Freunde, Zeitgenossen und Wegbegleiter zu Wort und man findet vor allem die Werke und Verdienste Gernsheims und seiner ersten Frau Alison gewürdigt. Nette Geschichten werden erzählt. So ließ Gernsheim einer Hüterin des Erbes von Lewis Caroll zu Weihnachten eine Topfpflanze zukommen, um seinem Interesse am Ankauf eines Albums Nachdruck zu verleihen (S.49). Über die Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau Alison liest man, dass diese „immer wieder“ in Bibliotheken geschickt wurde, um Exzerpte aus Quellenwerken anzufertigen, die nicht im Original in der Gernsheimschen Sammlung vorhanden gewesen seien (S.47). Und so weiter… Zwischen den Zeilen nimmt man also teil an Klatsch und Tratsch aus der obersten Etage der Erzväter der Fotogeschichte. Das mag im Einzelfall unterhaltsam sein, ob es aber auch zugleich wichtig für die Geschichte der Fotogeschichte ist, mag der Leser selbst beurteilen. Was Gernsheim angeht, scheint die im eigentlichen Anhang zu findenden Biographie und der Bibliographie seiner und seiner Frau Werke der entscheidende Bestandteil dieses Buches zu sein. Die Frage nach Gernsheims Arbeitsstil bleibt weitgehend im anektodischen, kann vielleicht auch durch die noch am Anfang stehende Aufarbeitung des Nachlasses noch gar nicht anders beantwortet werden. Das Wirken des Fotografen Gernsheim bleibt ebenso ausgespart, auch hier scheint noch Potential für weitere Aktivitäten des Mannheimer Forums zu liegen.

Fazit: Die Frage, wer diesen repräsentativen, durchgehend zweisprachig gesetzten Zwitter aus Festschrift und Katalog braucht, ist schwer zu beantworten. Die gedruckten Werke Gernsheims mögen ihre Bedeutung gehabt haben und sie noch immer haben, eine Auseinandersetzung mit ihrer Wirkungsgeschichte wird hier (noch) nicht geleistet. So schön der Einblick in die Sammlung Gernsheims sein mag, so qualitätvoll und stilsicher die Auswahl der Menschenbilder erscheinen, so instruktiv die Bildbeschreibungen auch sein mögen, der Bild- und Katalogteil erscheint als fünftes Rad am Wagen, weil man offenbar allein dem Thema Gernsheim nicht die nötige Zugkraft für ein solch dickes Buch zugetraut hatte. Vielleicht folgt ja für die Bilder irgendwann einmal ein schnörkelloser Bestandskatalog, wie ihn die Grubersche Sammlung in Köln schon erhielt.

* Zitat aus dem vorgestellten Buch, S.88

  • Titel: Helmut Gernsheim – Pionier der Fotogeschichte
  • Untertitel: 
  • Bildautor: 
  • Textautor:  Claude W. Sui, Alfred Wieczorek
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: 
  • Verlag: Hatje Cantz
  • Verlagsort: Ostfildern
  • Erscheinungsjahr: 2003
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 376
  • Bindung: Hardcover
  • Preis: 39,80 Euro
  • ISBN: 3775713808

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