Reale Fantasien

Junge Fotografie aus der Schweiz

RealeFan_a

Der Titel „Reale Fantasien“ ist Programm genug für ein Buch und eine Ausstellung mit Arbeiten von 21 Künstlern und Künstlergruppen. Es ging dem Fotomuseum Winterthur darum, einen Überblick über die junge Fotokunstszene der Schweiz zu bieten. Unter den drei ineinander verschränkten Kapiteln Welterkundung, Weltkonstruktionen und Welt Ich-Welt werden zeitgenössische Postitionen präsentiert. Der erste Begriff steht für die direkte Wahrnehmung und Darstellung mit einem (vermeintlich) hohen Grad an „Welthaltigkeit“ (vgl. den Ausstellungskatalog „Click Doubleclick“), der zweite für eine im Zeitalter des digitalen Bildes leichter mögliche Konstruktion von Wirklichkeiten und der dritte für die künstlerische Selbstvergewisserung des Ichs im immer schneller rotierenden Strudel der Veränderung. Reflektion des eigenen Tuns wird vom Mitherausgeber des Buches, Urs Stahel, als Grundlage für einen zeitgemäßen Umgang mit dem immer unübersichtlicheren Medium Fotografie als unabdingbar vorausgesetzt. Gemeinsame Klammer für alle vorgestellten Arbeiten sind aber die erzählerischen Momente. Die Fotografinnen und Fotografen nähern sich ihren Motiven ironisch, lakonisch, biographisch oder verrätseln sie ins Geheimnisvolle – eine neue Bildästhetik ist freilich nicht in Sicht.

Das Spektrum de vorgestellten Arbeiten reicht von nüchtern dokumentiertem Betonbrutalismus vergangener Architektenträume (Serge Frühauf) über skurrile Selbstinszenierungen in liebenswürdig altmodischem Schwarzweiß (Herbert Weber) bis hin zu computergenerierten „Imagineered Sculptures“ (Ruth Blesi, siehe auch das Umschlagmotiv des Buches) und der fotografischen Dokumentation einer mit Hilfe von Fotos realisierten Rauminstallation (Hendrikje Kühne / Beat Klein). Es gibt Erforschungen konfliktreicher Terrains, sei im früheren Jugoslawien (Goran Galic / Gian-Reto Gredig) oder in der eigenen Familie (Nele Stecher), eine Serie, die an Filmausschnitte erinnert (Marco Poloni) und eine, die Häuser zeigt, die hinter Büschen und Bäumen gerade noch erkennbar sind (Anna Kanai).

Auffällig häufig lassen sich von den hier präsentierten Arbeiten oder Arbeitsweisen Spuren zu anderen Künstlern finden. Wer denkt bei der Verwendung von Masken (Klodin Erb / Eliane Rutishauser) nicht an Ralph Eugene Meatyard oder Cindy Sherman, wer bei gemorphten Portraits (Rockmaster K) nicht an Thomas Ruff, wer bei expressiv eingefärbten und beleuchteten Nachtaufnahmen (Marianne Engel) nicht an Richard Misrach oder Erasmus Schröter, wer bei wissenschaftlich präsentierten Bildbeweisen (Christian Waldvogel) nicht an Joan Fontcuberta? Als andere prominente „Paten“ wären Beat Streuli, Jean-Pascal Imsand oder Jeff Wall auszumachen. Das Zitieren gehört selbstverständlich zu den Grundelementen der künstlerischen Arbeit, wird aber im Buch hinsichtlich des Bezugsrahmens kaum eines Wortes gewürdigt. Dass zwei Künstler (Körner Union im Buch, Andreas Thein beim Europäischen Preis für Architekturfotografie 2003) im gleichen Jahr das gleiche Sujet visualisierten, nämlich den Blick in offene Garagen, mag Zufall sein.

Der Übergang zwischen den realen Fantasien und den fantastischen Wirklichkeiten ist fließend und lässt jedweden fotografischen Konstruktionen zwischen Fiktion und Dokumentation viel Raum. Spannend wäre es, den Bildband in 15 Jahren nochmals daraufhin zu befragen, welche der darin vorgestellten Positionen in künstlerischer, medienreflexiver, vielleicht auch in kunstkommerzieller Beziehung Bestand hatten und welche nicht.

  • Titel: Reale Fantasien
  • Untertitel: Neue Fotografie aus der Schweiz
  • Bildautor: diverse
  • Textautor: Urs Stahel
  • Herausgeber: Urs Stahel, Thomas Seelig, Fotomuseum Winterthur
  • Gestalter: 
  • Verlag: Christoph Merian Verlag
  • Verlagsort: Basel
  • Erscheinungsjahr: 2006
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 216
  • Bindung: Softcover
  • Preis: 39 Euro
  • ISBN: 3856162747

Kommentarfunktion geschlossen.