Remontierte Geschichte

Das Jahr 1990 freilegen: ausgebreitet und doch verdichtet

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Zwei Fotos durch eine dünne schwarze Linie voneinander getrennt: Eine Gruppe von Menschen in leichter Untersicht. Im Zentrum schaut eine junge Frau direkt in die Kamera, die anderen hierhin und dorthin, skeptisch, zurückhaltend, fragend. Schweigen liegt über der Szene. Darunter ein weiteres Foto: Ein aufgerissener Straßenzug in Zentralperspektive. Asphaltplatten liegen übereinander, als hätte sich ein riesiger Pflug durch die Straße gewühlt. Wer denkt da nicht an C. D. Friedrichs Gemälde Das Eismeer, bekannter als Die gescheiterte Hoffnung aus dem Jahre 1823/1824? Das könnte durchaus der Buchtitel sein. Dieser steht auf dem Buchrücken: Das Jahr 1990 freilegen – Remontage der Zeit. Die Stichworte lauten: Aufriss, Abriss, Durchriss. Konstruktion, Dekonstruktion, Komposition, Montage, Kollage. Assoziation, Fantasie, Illusion, Utopie, Dystopie. Chaos, neue Ordnung. Ende, Anfang. Neubeginn. Die Euphorie vom November 1989 war 1990 schon wieder verflogen, die Realität schlug gnadenlos zu und für viele im Osten war es ein böses Erwachen, das in Katerstimmung umschlug. Man taumelte in eine neue Realität und wurde von ihr kalt erwischt. 1990 markiert die eigentliche Nahtstelle oder den sich auftuenden tiefen Graben. Die Bildmontage auf dem Buchdeckel bringt es auf den Punkt.

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Ein solches Jahr des Umbruchs in seiner Vielschichtigkeit und seinem Facettenreichtum zu fassen, scheint nahezu unmöglich. Aber hier ist es geglückt. Der Riesenband bringt zusammen, was zusammengehört, was alleine stehen kann und sich doch gegenseitig ergänzt, befeuert und im Geiste Funken schlägt: All das wird zur riesigen „Lektüre eines Jahres“ sowohl ausgebreitet als auch verdichtet. Die Remontage zeitigt ein nur vordergründiges Durcheinander von Essays, Protokollen, Erfahrungsberichten, Interviews, Reden Zeitungsbeiträgen, Gesprächen, Slogans, Werbesprüchen, Parolen, Tagebüchereinträgen, Briefen usw. in unterschiedlichen Schrifttypen und -größen. Dazu jede Menge Fotos: Bildreportagen, Zeitungsstrecken, TV-Fotos. Straßenfotografie, Porträts, Interieurs, Landschaftsbilder, Städtebilder, Sportbilder etc.

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Das Buch hat viel Text und ist dennoch ein Fotobuch. Perfekt ist gelungen, Textmassen und Bilder in ein harmonisches, einander ergänzendes und stimmiges Verhältnis zu setzen. Das Layout erinnert nicht nur an Zeitungsseiten. Die horizontalen und vertikalen schwarzen Linien lassen auch an Piet Mondrians unsymmetrische „Kompositionen“ denken. Erinnerungen sind nun mal nicht linear, sie setzen sich zusammen, greifen ineinander, überlagern und ergänzen sich, das wird hier eindrücklich gestalterisch hervorgehoben. Weil jeder einen anderen Zugang hat, kann jeder anders gewichten und sich seine Geschichte des Jahres 1990 komponieren oder remontieren – je nachdem. Das Buch wurde übrigens von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten deutschen Bücher 2020 ausgezeichnet. Kein Wunder.

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  • Titel: Das Jahr 1990 freilegen
  • Untertitel: Remontage der Zeit
  • Bildautor: diverse (Christian Borchert, Christiane Eisler, Gerhard Gäbler, Silke Geister, Anselm Graubner, Martin Jehnichen, Harald Kirschner, Ute Mahler, Tomki Němec, Jens Rötzsch, Andreas Rost, Einar Schleef, Michael Schmidt, Gundula Schulze-Eldowy, Martin Zitzlaff u. a.)
  • Textautor: diverse (Martin Gross, Alexander Kluge u. a. )
  • Herausgeber: Jan Wenzel
  • Gestalter: Wolfgang Schwärzler
  • Verlag: Spector Books
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: deutsch
  • Format: 33,5 x 24,3 x 4,6 cm
  • Seitenzahl: 592
  • Bindung: Softcover, illustrierter Schutzmschlag
  • Preis: 36 Euro
  • ISBN: 978-3-95905-319-8

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