The American Nightmare

Jenseits des Betroffenheitskitsches: Der Fotobuchklassiker „Rich and Poor” von Jim Goldberg

Goldberg_Umschlag

Vom Tellerwäscher zum Millionär: Für viele US-Amerikaner ist dieser Mythos in den 1970er und 1980er Jahren längst pure Ironie. Das Land ist enorm verschuldet, das Wirtschaftswachstum stagniert, die Arbeitslosigkeit steigt. Die Zeiten des New Deal, einer erkennbaren Sozialpolitik, beendet ausgerechnet einer, der selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammt: Ronald Reagan. Der Ex-Gouverneur von Kalifornien wird 1981 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt und läutet eine neoliberale Wirtschaftspolitik ein. Er senkt den Spitzensteuersatz, kürzt die Finanzmittel für Sozialprogramme. Wie wirkt sich diese Politik auf den Lebensalltag der Schwächsten einer Gesellschaft aus? Wie beeinflusst sie das Selbstverständnis der Starken?

Jim Goldberg erklärt dies zum Thema eines fotodokumentarischen Projekts. Als er damit beginnt, 1977, studiert er noch Fotografie am Francisco Art Institute. Als er es beendet, 1985, kann er nicht nur einen Mastertitel vorweisen, sondern hat auch eine Form der narrativen Fotografie erfunden, die bis heute seinen Ruhm ausmacht. Die Serie Rich and Poor schlägt in der Kunstwelt ein wie eine Bombe. John Szarkowski wählt sie bereits 1984 für die Ausstellung Three Americans im New Yorker Museum of Modern Art aus. Die drei Amerikaner sind in diesem Fall: Jim Goldberg, Joel Sternfeld und Robert Adams. Ein Jahr später erscheint Rich and Poor als Fotobuch – und ist sofort vergriffen.

Goldberg_09

Goldberg_05

Es ist ein Glücksfall, dass Goldberg sein analoges Archiv jüngst digitalisieren ließ. Das Sichten der Fotos weckte in ihm den Wunsch, Rich and Poor neu herauszugeben. Die überarbeitete Fassung liegt nun vor: Sie enthält Vintage-Material und zeitgenössische Fotografien, die noch nie veröffentlicht wurden. (Als Bonusmaterial ist dem Buch ein Leporello beigefügt, das die einstigen Schauplätze der Serie im heutigen Zustand zeigt.) Man begleitet den US-amerikanischen Fotografen, der 1953 in New Haven geboren wurde, gern auf eine Zeitreise ins vergangene Jahrtausend.

Die Mission Street in San Francisco ist 1977 beileibe keine feine Adresse. Auch das schäbige Alder Hotel beherbergt keine finanzstarke Klientel. Die Stadt bringt hier obdachlose Menschen unter. Ein Zimmer für eine vierköpfige Familie ist hier kein Ausnahmefall. Die Nöte sind existenziell: Komme ich aus diesem Loch je wieder heraus? Haben meine Kinder den Hauch einer Chance? Wenige Kilometer weiter prägen protzige Villen das Bild. Die Wohlhabenden erleben hier ihren eigenen „Struggle of Life”: Wo bekommt man gutes Personal her? Wie bugsiere ich meinen Nachwuchs aufs Elite-College. Die Armen und die Reichen – sie leben in unterschiedlichen Universen.

Goldberg_06

Goldberg_08

Soziale Segregation, Ungleichheit, Armut: Es ist ein ergiebiges Sujet für jeden Fotografen, aber ästhetisch nicht ganz einfach zu fassen. Wie geht es Jim Goldberg an? Er porträtiert Arme und Reiche in ihrem Lebensumfeld und bringt diese dann dazu, ihr Foto handschriftlich zu kommentieren. Die Protagonisten haben auf diese Weise die Deutung ihrer Fotos selbst in der Hand. Und die Kommentare sind überraschend hellsichtig. Roston schreibt: „Die Welt der Reichen ist konservativ, bigott und egoistisch. Ich bin darin gefangen.” Nola merkt an: „Ich wünschte, ich hätte Geld. Dann könnte ich aussehen und sein, wie ich will.” „Ich habe ein fantastisches Auto, eine fantastische Frau, ein fantastisches Haus. Aber im Grunde mangelt es mir an Selbstvertrauen”, analysiert Ron. „Ich habe Talent, aber keine Möglichkeit, es einzusetzen”, kommentiert Vickie.

Jim Goldberg sucht Themen, die explizit politisch sind, verneint aber jedes politische Motiv. In einem Interview mit Sean O’Hagan, The Guardian, sagte er: „Ich bin kein entschieden politischer Mensch. Ich bin im Grunde eher an daran interessiert, ästhetisch radikal zu sein.” Goldberg, der Robert Frank verehrt, war nie versucht, dessen Stil zu kopieren. Er hat mit seiner Form des „Documentary Storytelling” seine eigene, unverwechselbare Handschrift gefunden. Der Fotograf, der in San Francisco lebt, dort am California College of Arts lehrt und seit 2002 Mitglied der Fotoagentur Magnum ist, bringt seine Arbeitsweise so auf den Punkt: „Seit 1970 benutze ich Texte und Gebrauchsgrafik ebenso wie Fotos, um Geschichten auf eine neue Art zu erzählen.” Bekannt wurde Goldberg insbesondere durch seine Fotobücher. In Raised by Wolfes (1995) porträtiert er jugendliche Obdachlose, in Open See (2009) verfolgt er die Wege von Migranten.

Goldberg_04

Goldberg_02

Jim Goldberg gelingt es, Interesse für brisante gesellschaftspolitische Themen zu wecken. Es gelingt ihm, weil er eben nicht schablonenhaft oder einseitig verzerrt erzählt, wie es Fotojournalisten so häufig tun. Goldbergs Stil ist formal anspruchsvoll und zugleich selbstbefragend. Je mehr man sich mit seiner Arbeit beschäftigt, umso mehr denkt man auch über die Grenzen der Dokumentarfotografie nach.

  • Titel: Rich and Poor
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Jim Goldberg
  • Textautor: Jim Goldberg (und andere)
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Jim Goldberg
  • Verlag: Steidl
  • Verlagsort: Göttingen
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Sprache: english
  • Format: 
  • Seitenzahl: 222
  • Bindung: Leinen, Schutzumschlag
  • Preis: 65 Euro
  • ISBN: 978-3-86930-688-9

Kommentarfunktion geschlossen.