Tiroler Manierismus

Ein Buch über das Büchermachen oder über Tirol?

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Ein Buch besteht aus gefalzten Druckbögen, die am Rücken miteinander verbunden sind. Das ist soweit als Definition ziemlich unstrittig. Warum man aber genau diese Eigenschaft in einem Buch über Tirol, entstanden „für die Tirol-Werbung“, durch eine bogenweise Paginierung, durch das Abwechseln von matterem und glänzenderem Papier thematisieren muss, bleibt ein Rätsel. Was ist die Funktion der vielen Unterstriche (siehe Buchtitel)? Zudem werden hin und wieder Bilder durch den Falt- und Bindeprozess in zwei auf unterschiedlichen Seiten wieder zu Tage tretende Teilen „fragmentiert“. Diese Bilder sind also nicht in Gänze zu betrachten – sind sie unwichtig, kann man sie beliebig beschneiden? Geht es gar um die Fragmentierung von Tirol, ein Land, das ja zu zwei Staaten gehört? Geht es um Berge, die die Landschaft durchschneiden wie die Fadenheftung den Druckbogen? Das ist bestimmt zu weit interpretiert, es geht allein um ein auf Seite 4 von Bogen 1 erläutertes buchgestalterisches Konzept, dass aber genauso gut auch an einem anderen Thema – Eskimos, Dampflokomotiven oder Rugby – hätte ausprobiert werden können. Warum ausgerechnet Tirol? Das mag der Leser selbst ergründen.

Die von sieben Fotografinnen und Fotografen stammenden Aufnahmen zeigen ein ernüchterndes Bild Tirols zwischen schöner und verbauter Landschaft, zwischen Tradition und erbarmunglosem Fortschritt, mit Seilbahnen, Tunneln und Trachtenträgerinnen, die sich an der Tankstelle einen Kaffee holen (Titelbild). Auf den Vorsätzen – inkonsequenterweise die einzigen Seiten, die nicht nummeriert sind – finden sich Zitate von Roland Barthes und Daniel J. Boorstin, die als ironisches Motto durchgehen könnten, wenn nicht der Untertitel „Entscheidungen zum Bild der touristischen Landschaft“ den Spaß gleich wieder ausbremsen würde. Der touristische Teil der Fotoexpeditionen wurde von der „Tirol Werbung“ für deren Zwecke ausgewählt, der andere Teil wurde von Kurator Scheppe für dieses Buch verwendet. Es könnte sein, dass es dabei zu Überschneidungen gekommen ist. Nicht das manierierte Layout, sondern die Ambivalenz des Bildmaterials ist das Gute an diesem mit dem Deutschen Fotobuchpreis in Gold ausgezeichneten Buch.

 

  • Titel: Sight-_Seeing
  • Untertitel: Bildwürdigkeit und Sehenswürdigkeit. In Tirol oder Entscheidungen zum Bild der touristischen Landschaft
  • Bildautor: Andrea Buran, Michael Danner, Dominik Gigler, Monika Höfler, Verena Kathrein, Jörg Koopmann, Andrew Phelps, Matthias Ziegler
  • Textautor: Gero Günther, Walter Klier, Wolfgang Scheppe
  • Herausgeber: Wolfgang Scheppe
  • Gestalter: Wolfgang Scheppe, Andrea Buran
  • Verlag: Hatje Cantz
  • Verlagsort: Ostfildern
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 192
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 35 Euro
  • ISBN: 978-3-7757-3018-1

Eine Antwort zu Tiroler Manierismus

  1. Die besondere Schreibweise von Sightseeing geht auf den amerikanischen Kulturkritiker und Bildtheoretiker Daniel J. Boorstin zurück, der speziell die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts grundsätzlich beeinflusste. Boorstin wies als erster darauf hin, dass der mit der graphischen Revolution ins Leben getretene Ausdruck Sightseeing eine Verdopplung formuliert: Was man sieht, ist ein vorausgesetztes je schon Gesehenes und als fertiges Blickregime Angebotenes. Man sieht nur eine gesellschaftlich vorgefertigte Sicht. Um die unproblematische Lesart des zur Gewohnheit gewordenen Ausdrucks aufzubrechen, wurden die typographischen Unterbrechungen hinzugefügt. Sie sind ein elegantes Mittel, das charakteristische Paradox des Wortes offenkundig zu machen, zumal für jene, denen der Boorstin Bezug, der später etwa auch von Luhmann aufgegriffen wurde, verborgen bleibt. Wiegand empfand den Code als albern, weil er ihn nicht verstanden hat.

    Was den in dieser Rezension erhobenen Vorwurf ans Layout angeht, dem “Manierismus” und generell die Überwältigung der Fotografien vorgeworfen wird: Es liegt hier eine merkwürdige Verwechslung vor, die eine klassische fotografische Monographie mit einem Projekt in einen Topf wirft, das einen Gegenstand hat, der nicht Fotografie heisst, sondern Landschaft. Bei Sightseeing – und darin liegt die ganze Pointe – geht es um eine Versammlung sehr unterschiedlicher Bildautoren mit sehr unterschiedlichem Hintergrund, die gemeinsam versuchten, zum Teil auch im Rahmen gemeinsamer Wanderungen, eine Landschaft auf neue Art und Weise zu erfassen. Es galt also vor allem anderen und im Gegensatz zu monographischen Portfolios, die Bilder zueinander in Beziehung zu setzen und miteinander reagieren zu lassen. Heterogene Bilder wohlgemerkt, mit unterschiedlichen Zugangsweisen, Gewichtungen, formalen Entscheidungen. Solche Bilder kann man nicht in das gleichgültige Nebeneinander der von einem weissen Passepartout gerahmten Einzelseiten bringen, die alles über denselben Kamm scheren. Zumal im Vordergrund des Erkenntnisinteresses das Territorium stand, das es neu zu begreifen galt. Beide Bücher entfalten also einen Raum und tun dies ganz buchstäblich: In einigen Fällen haben zwei der Bildautoren im gleichen Moment aber aus unterschiedlichen Bildwinkeln und von unterschiedlichen Standpunkten dasselbe Objekt fotografiert. Natürlich muss man solche Bilder, wie alle, die den Raum von unterschiedlichen Perspektiven her abtasten, zueinander ins Verhältnis setzen. Dafür sind von den Mitteln der Buchgestaltung her enge Grenzen gesetzt, die es freilich zu erproben gilt. So, wie das ganze Projekt aus einer engen und intensiv geführten Diskurs-Situation aller Beteiligten, der Herausgeber, Buchgestalter und Fotografen geboren wurde, so ist das Layout über einen sehr langen Zeitraum in einer Diskussion entstanden, die die Fotografen miteinschloss.
    Die besondere Leistung, des tatsächlich in der Geschichte der Buchgestaltung neuartigen Layouts des ersten Bandes, besteht darin, die Bezüge nicht nur innerhalb einer Doppelseite, sondern über ein ganzes Kapitel aufzuspannen.