„Tausende von Fotos und Karteikarten zu durchforsten, hat eine beinahe hypnotisierende Wirkung“, schreibt Herausgeber David King in der Einleitung zu diesem Band über die Opfer Stalins. Aber was für Fotos! Knapp 170 sogenannte „Mug Shots“, Verbrecherfotos, enthält sein Buch. Und wirklich: Das ist nur schwer auszuhalten und doch kann man sich diesen Aufnahmen nicht entziehen. Hinter jedem Bild und den kargen Angaben dazu verbirgt sich eine Lebensgeschichte, ein trauriges Schicksal. Alle Abgebildeten eint eins: Sie haben kein Verbrechen begangen, nicht mal im Sinne der gegen sie erhobenen Anklagen. Es waren Leute wie du und ich: Schriftsteller, Künstler, einfache Arbeiter, Ingenieure, Professoren, Ärzte,Studenten, Journalisten, Parteimitglieder, Soldaten, junge Leute ebenso wie Alte, Männer und Frauen aus allen Ecken des sowjetischen Riesenreichs. Jeder konnte der nächste sein, zu jedem Zeitpunkt. Sie alle – im Jargon der Zeit „Volksfeinde“ – gerieten zwischen 1925 und 1950 in das Räderwerk der Geheimpolizei (GPU, OGPU, NKWD), wurden unter haarsträubenden Anschuldigungen vor Gericht gestellt und oftmals noch am selben Tag erschossen und in Massengräbern verscharrt. Die paranoiden Anklagen lauteten auf „terroristische Handlungen“, „Spionage“, „Sabotage“, „Gründung konterrevolutionärer Zellen“, „antisowjetische Agitation“ usw. Oft ist die Anklage unbekannt. Zur falschen Zeit am falschen Ort oder denunziert von missgünstigen Nachbarn? Wir wissen es nicht und werden es nie erfahren. So planmäßig effektiv die Tötungsmaschinerie des stalinistischen Terrorregimes war, so gründlich war deren Bürokratie. Jedes Opfer bekam eine Nummer, wurde abgelichtet, das Foto auf Karton geklebt, darauf Name, Wohnort, Beruf, Anklage, Todesdatum vermerkt. Hunderttausende dieser Akten wurden im Zentralarchiv des KGB archiviert und dort bis weit in die Achtzigerjahre unter Verschluss gehalten. Jetzt werden sie von Memorial verwaltet, einer Menschenrechtsorganisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die Verbrechen der Stalinzeit zu dokumentieren und aufzuarbeiten.
Die Originalfotos haben lediglich Passbildformat. Vergrößert nahezu auf Seitenformat und zu Doppelporträts montiert, wird das Grauen hier in seiner unfassbaren Intensität fast körperlich spürbar. Anders als die Nationalsozialisten, die ihre Opfer mit Blitz ablichteten, wurde in den stalinistischen Geheimgefängnissen mit Umgebungslicht und langen Belichtungszeiten gearbeitet. Dadurch scheinen sich die Gefühle und Regungen der Opfer geradezu in den Film eingebrannt zu haben. Aus den Gesichtern spricht Angst, unsägliche Pein und unmäßiges Entsetzen, totale Hilflosigkeit, Resignation und Traurigkeit. Aber manchmal scheint leiser Trotz anzuklingen und ein überlegendes Lächeln über ein Gesicht zu huschen.
Das Buch ist wichtig und hochaktuell. Während sich unter Stalin die sowjetische Fotografie und Buchgestaltung zu großartigen Meisterleistungen im Dienst der Propaganda aufschwang (und nicht wenige Künstler dabei ihre Seele verkauften), zeigt dieser Band die inoffizielle Geschichte der Stalinzeit in bewegenden Porträts und dokumentiert den Schrecken einer Ära, die im Zuge des russischen Geschichtsrevisionismus unter Putin wieder verklärt wird.
- Titel: Ganz normale Bürger
- Untertitel: Die Opfer Stalins
- Bildautor:
- Textautor: David King
- Herausgeber:
- Gestalter: David King
- Verlag: Mehring-Verlag
- Verlagsort: Essen
- Erscheinungsjahr: 2012
- Sprache: deutsch
- Format:
- Seitenzahl: 192
- Bindung: Illustriertes Hardcover, Schutzumschlag
- Preis: 29,90 Euro
- ISBN: 978-3886341283