Die grosse Welt?

Helga Paris auf dem Leipziger Hauptbahnhof

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Das Buch ist klein, und das gefällt schon mal sehr, denn dicke, grosse Bücher, die nur auf dem Tisch liegend betrachtet werden können, beeinträchtigtigen den Genuss. Doch im vorliegenden Fall ergab sich offenbar ein Dilemma: Querformate können auf einer Seite nur mit ca. 13 cm Breite gedruckt werden. Daher hat man einige Fotografien (15 an der Zahl) über zwei Seiten hinweg, also über den Bruch gedruckt. Damit ich auch diese halbwegs ordentlich anschauen kann, bin ich zunächst dem Rat eines Buchbinders (!) gefolgt und habe die Buchdeckel gefasst und kräftig zurück gebogen, das Buch regelrecht aufgebrochen. Nun sperrt das Büchlein ein wenig, aber ich kann die grossen Querbilder nun betrachten. Richtig gut gelingt das nicht, eine junge Frau bleibt einbeinig. Häufig sind bildwichtige Details genau in der Bildmitte, und die wird durch den Bruch markiert. Es entstehen immer zwei Bilder nebeneinander. Das Layout des Buches und seine Dramaturgie erinnern mich sehr an Helga Paris In Siebenbürgen aus dem Jahre 1982, fast im gleichen Format und auch mit Bildern über den Bruch gedruckt, dort nur fünf, aber ebenfalls beeinträchtigend.

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Eine andere Einschätzung der klein abgebildeten Fotos – man möge sich ihnen etwas zuneigen, um sie zu lesen – ergibt sich aus der Berücksichtigung der damaligen technischen Möglichkeiten. In jenen analogen Zeiten musste man zum Fotografieren in Innenräumen hochempfindliche, also körnige Filme verwenden und bei offener Blende und relativ langen Zeiten fotografieren. Die Bilder haben nicht die Knackigkeit der heutigen digitalen Technik, und würden „aufgeblasen“ möglicherweise undeutlich wirken. Das Papier ist weder glänzend noch matt, sondern irgendwie dazwischen – unschön. So viel zu den äusseren Bedingungen.

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Helga Paris fotografiert das Leben: hasten, innehalten, arbeiten, warten, ein Bier trinken (ein Sternburg-Bier kostete 55 Pfennige). Sie tritt den Menschen warmherzig, fast zärtlich entgegen, und wo sie bemerkt wird, erhält sie zumeist freundliche Blicke zurück. Sogar mitten im Getümmel versteht es die Fotografin, Personen während eines kurzen Innehaltens wunderbar zu porträtieren. Architektur-Details sind einige wenige zu sehen, Lokomotiven ein Mal. Den im Bahnhof Arbeitenden gilt Helga Paris‘ besondere Aufmerksamkeit. Die Galerie der jungen Mädchen, die gefangen in ihrer Arbeit träumerisch in eine nur ihnen bekannte Welt blicken, sie beginnt mit Robert Franks „Elevator Girl“, das Jack Kerouac so mochte, führt über Benita Suchodrevs Serviererin und wird mit Helga Paris‘ schöner Kellnerin fortgesetzt. In ihrer schicken Bluse könnte sie geradewegs ins Theater gehen. So können wir in den Bildern auch über Kleidungssitten nachsinnen. Die Leipziger Kellner hatten offenbar als Insignien besonders grosse schwarze Querbinder und die Kellnerinnen alberne kleine Schürzchen. Ältere Männer und Frauen trugen Hut, und gedeckte Farben überwiegen, Reisekleidung eben. Eine junge Frau trägt einen Hosenanzug, der eher auf einer Strandpromenade angesagt wäre. Uniformierte sind auch zu sehen, NVA-Soldaten unauffällig, Sowjetsoldaten sehr locker, und Eisenbahner-Uniformen wirken erstaunlich zivil, bei einer jungen Frau sogar kleidsam. „Knaller“-Bilder gibt es gar nicht. Alle Fotografien folgen einem gemeinsamen, grossen Atem, fast wie eine Filmsequenz.

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Inka Schube erwähnt in ihrem Begleittext Helga Paris‘ Erfahrung mit Theaterfotografie. Das mag ihr bei den Totalen zugute gekommen sein, auf denen die Menschen in der Bahnhofshalle ihren Auftritt haben. Bereits Anna Farova hatte angesichts von Josef Koudelkas Gypsies ebenfalls auf dessen Background als Theaterfotograf hingewiesen. Wahrscheinlich ist Theater eine gute Sehschule, insbesondere für die Inszenierung von Menschengetümmel. Obwohl auch gerannt wird, ist der Leipziger Hauptbahnhof in eine recht entspannnte Atmosphäre getaucht.

Eine großartige Fotoserie – in meinen Augen geschlossener als Helga Paris‘ bekannter Essay Diva in Grau über Halle/Saale – jedoch mangelhaft dargeboten.

 

  • Titel: Leipzig Hauptbahnhof 1981/82
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Helga Paris
  • Textautor: Inka Schube
  • Herausgeber: Inka Schube
  • Gestalter: Malin Gewinner
  • Verlag: Spector Books
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 18 x 14 cm
  • Seitenzahl: 144
  • Bindung: Hardcover
  • Preis: 20 Euro
  • ISBN: 978-3-95905-342-2

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