Eine Aufsehen erregende Arbeit legte Helena Schätzle vor einiger Zeit vor. Es gab damit eine Ausstellung bzw. Ausstellungsbeteiligung, es gab ein Künstlerbuch in Kleinstauflage, dann unter dem Titel Die Zeit dazwischen. 2621 Kilometer Erinnerung eine mehr oder weniger handgemachten 2.Auflage, deren 100 Exemplare 2010 schnell ausverkauft waren. Das war ein Buch, das durch seine ungewöhnliche Form (Bindung in LKW-Plane, versteckte Bilder, die man nur unter Mühe oder unter Zerstörung der japanischen Bindung hätte betrachten können) nicht nur auffiel, sondern auch überzeugte. Wie hätte man die Konzepte von Ausstellung und Künstlerbuch in ein weltmarkttaugliches, in größeren Stückzahlen herstellbares Fotobuch umsetzen können? Zunächst einmal mit den Texten nicht nur in Deutsch, sondern auch in Englisch und unter Fortfall des bisherigen soziologischen Vorworts. Dann unter Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Gestalterinnen, die für die „versteckten“ historischen Familienbilder und überhaupt für alle anderen im Sinne einer Verlagsproduktion offenen Fragen neue Antworten in einem veränderten Layout fanden. Aus dem „alten“ plus zusätzlich recherchiertem Material entstand ein „neues“ Buch, bei dessen Ausstattung alle Beteiligten weder Kosten noch Mühe gescheut haben: ein Einband aus bedrucktem Leinen mit einer Titelschrift, die an eine Banderole erinnert, drei verschiedene Papiersorten für Text, Farbbilder und Schwarzweißreproduktionen (letztere auf hauchdünnem Transparentpapier), eine lose beiliegende Landkarte, die zugleich als Bildindex fungiert. Ein am Ende erstaunlich preiswertes Buch, das gestalterisch, drucktechnisch und von der Verarbeitung her perfekt ist. Lohnte sich der Aufwand?
Eigentlich gehörte diese selbstverständlich zu bejahende Frage an den Anfang einer Rezension. Helena Schätzle hatte für ihr ursprünglich als Examensarbeit ihres Fotostudium konzipiertes Projekt Erzählungen ihres Großvaters zum Ausgangspunkt gemacht. Dieser war als Soldat bis in den Kaukasus gelangt, dann in Kriegsgefangenschaft geraten und 1946 von Rumänien aus bis nach Hause an den Bodensee geflüchtet. Unvorstellbar, aber wahr. Schätzle machte sich auf die gleiche Reise, traf unterwegs Menschen, die der Fotografin von ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg bzw. mit den Deutschen erzählten. Sie portraitierte die Leute ruhig und distanziert in ihren Wohnungen und protokollierte ihre Berichte. Im Kontrast dazu stehen die grauen, kalten, wolkenverhangenen Winterlandschaften, die schon der Großvater so hätte sehen können, die aber gegenwärtige Motive in Polen, der Ukraine, Österreich oder Rumänien zeigen: Wege, Bahnlinien, Berggipfel, kleine Dörfer, Waldstücke. Im Buch fügen sich die Bruchstücke zu einer Reise in die Vergangenheit zusammen. Vielleicht kommt dieser Aspekt in der jetzt vorliegenden, wohl definitiven Form am besten zum Ausdruck. Texte, alte Familienbilder, aktuelle Portraits und die distanziert-frostigen Landschaften ergeben ein Ganzes, das die Geschichte des Großvaters für andere nachvollziehbar macht und dabei weit über das private Schicksal hinaus zu einer großen Erzählung über die Menschlichkeit in Zeiten des Krieges verwebt.
- Titel: 9645 Kilometer Erinnerung – 9645 Kilometres of Memories
- Untertitel:
- Bildautor: Helena Schätzle
- Textautor: (diverse)
- Herausgeber:
- Gestalter: Eva Maria Kroder, Lilly Nikolic
- Verlag: Nimbus Verlag
- Verlagsort: Wädenswil am Zürichsee
- Erscheinungsjahr: 2012
- Sprache: deutsch, englisch
- Format:
- Seitenzahl: 168 und eine lose Kartenbeilage
- Bindung: bedrucktes Leinen
- Preis: 38 Euro, die zusätzlich erschienene Sonderausgabe mit Originalabzug (Auflage 2 x 25 Exemplare in Leinenmappe) im gemeinsamen Schuber ist teurer
- ISBN: 978-3-907142-71-4
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