Siedepunkte der Geschichte

Flashpoint – Protest Photography in Print

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Ist nicht schon alles, was es über Fotobücher an Überblicksdarstellungen zu schreiben gibt, geschrieben worden? Fast alles – aber es gibt noch immer Themen, die offen sind oder bis vor kurzem waren. So das Thema Protestfotografie. Diese richtet sich dezidiert für oder gegen etwas, zum Beispiel gegen Krieg, gegen Atomkraft, gegen Gewalt, gegen bestimmte Baumaßnahmen oder für Rechte von Minderheiten, für Freiheit und für Selbstbestimmung. Die dazu erschienenen Publikationen sind dafür gemacht, die Protestierenden zu unterstützen, für eine größere Öffentlichkeit zu sorgen oder das zu dokumentieren, was war. Das dicke rote Buch Flashpoint! nimmt sich diesem Thema an – in allen möglichen Spielarten und in weltweiter Auswahl. Es werden fotoillustrierte Publikationen aus der Zeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs vorgestellt, also nicht nur Bücher, sondern auch Broschüren, Zeitschriften und Plakate, was eine deutliche Ausweitung der Perspektive bedeutet. Die Aufgliederung in die Kapitel „Anti“, „Genders“, „Displacement“, „Race & Class“, „Environment“, „Political“ und „War & Violence“ zeigt, wie weit „Protest“ für das Herausgebergremium geht. Jedes Kapitel ist jeweils in mehrere Unterpunkte unterteilt und wird von einem Essay begleitet. Zwei auf rotes Papier gedruckte Seiten trennen die Hauptkapitel voneinander, während die Unterpunkte durch ganzseitige Bilder eingeleitet werden. Die in diese Struktur eingepassten Publikationen werden mit ihren bibliografischen Daten, einem kurzen Text und Reproduktionen des Covers und mal mehr, mal weniger Innenseiten vorgestellt. Von Plakaten gibt es natürlich nur ein Bild.

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Das Layout ist trotz der straffen inhaltlichen Gliederung abwechslungsreich. Wenn mal der Zusammenhang zwischen Abbildungen und Text nicht eindeutig ist, gibt es dezente Bildunterschriften. Für die Typografie wurde eine Schreibmaschinenschrift gewählt und der Druck erfolgte auf mattes Papier, das keine große Brillanz zuließ; Understatement, das zum Inhalt passt. Am Ende findet man ein Register und eine Kurzvorstellung von einigen Publikationen, die es schon zur „Protest Photography“ gibt. Das von der nicht kommerziell arbeitenden Initiative 10 x 10 herausgegebene Buch setzt sowohl in Inhalt als auch in der Gestaltung Maßstäbe, aber… Deutschland kommt nicht vor, als ob es keine APO, kein Gorleben, kein Wackersdorf, keine Anti-Atomkraftbewegung, keine Auseinandersetzungen um besetzte Häuser oder zu rodende Wälder, kein Mauerfall und keine Drucksachen darüber gegeben hätte. Als fast einzige deutsche Publikation wird Dirk Alvermanns Algerien (1960) genannt, natürlich ein Protestbuch, aber auf der Grundlage, dass hinter diesem Protest nicht nur ein junger, idealistischer Düsseldorfer Fotograf stand, sondern auch die Kulturfunktionäre der DDR, die das Buch für ihre anti-imperialistischen, anti-westlichen Ziele zu instrumentalisieren trachteten. Was ist mit Publikationen, die im Interesse einer staatlichen Ideologie lagen oder von einem Staat initiiert wurden? Wo hört Protest auf, wo fängt Propaganda an?

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Flashpoint! ist als Überblick und Einstieg in das Thema der „Protest Photography“ gut und passend, aber es ist dazu noch lange nicht alles gesagt, was dazu zu sagen gäbe, wie allein das Beispiel des 45 Jahre lang zweistaatlichen Deutschlands zeigt, wo der Protest mit Fotos im Übrigen nicht erst 1950 anfängt. Ernst Friedrich leistete mit Krieg dem Kriege (1924) drastische Vorarbeit. Genutzt hat es freilich nichts – aber das ist eine andere Geschichte.

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  • Titel: Flashpoint!
  • Untertitel: Protest Photography in Print 1950-Present
  • Bildautor: (diverse)
  • Textautor: (diverse)
  • Herausgeber: Russet Lederman, Olga Yatskevich
  • Gestalter: Huber/Sterzinger und Miloš Gavrić
  • Verlag: 10×10 Photobooks
  • Verlagsort: New York
  • Erscheinungsjahr: 2024
  • Sprache: englisch
  • Format: 31 x 24 cm, ca. 2 kg schwer
  • Seitenzahl: 576
  • Bindung: Fadengeheftetes Softcover mit illustriertem Schutzumschlag
  • Preis: 85 $
  • ISBN: 979-8-218-45950-5

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