Soziofotografie?

Die öden Stadtbilder der Bettina Lockemann

Lockemann_Cover

Es gibt unendlich viel Bildbände über Regionen und Städte, in denen diese mehr oder weniger gekonnt abfotografiert wurden. Was soll mir so etwas bringen? Als mir kürzlich der schon 2011 erschienene Lockemann-Band in die Hände fiel, vermutete ich, dass sich hier jemand mit der Materie andersartig auseinander gesetzt hat. Da wollte ich mal genauer hinschauen.

Das Buch enthält elf Essays, teils Dokumentationen von Video-Arbeiten. Alle fragen, was heute „städtisch“ ist, was uns der Stadtraum bietet, wie wir uns darin bewegen. Fotografische Städtebeschreibungen versuchen in der Regel, das Typische, Eigenständige eines Ortes heraus zu arbeiten. Vielleicht durch die in allen Städten grassierende Gentrifizierung und damit einhergehende Nivellierung mit austauschbarer Architektur („Investoren-Architektur“), wurde Bettina Lockemann motiviert, diese Misere in Bilder zu fassen, „die nichts Ortstypisches mehr beinhalten” (Seite 2).

Lockemann_3_bearbeitet-1

Referenzbuch für Lockemanns Arbeiten könnte Siedlungen, Agglomeration von Peter Fischli und David Weiss aus dem Jahr 1993 gewesen sein. Die Schweizer Autoren fotografieren einen Zürcher Vorort, eine Schlafstadt durch die Jahreszeiten hindurch, und es könnte sich auch um Basel, Bern oder Lugano handeln. Jedenfalls ist die perfekt gepflegte Ödnis bedrückend. Während Fischli und Weiss, wie in allen ihren Werken, nur Fragen stellen und die Antworten dem Betrachter überlassen, benennt Lockemann für ihre Essays zumindest die Zielrichtung. In der Türkei hat Bettina Lockemann erkundet, was in Istanbul schon asiatisch ist und was in Ankara noch europäisch. Im Gegensatz zu den anderen Serien scheint in dieser Individuelles auf. Ja, hier könnte man schon sein. Auf einigen Bildern erkenne ich das Istanbul von Maria Sewcz.

Kann sich aber jemand vorstellen, in Los Angeles, Las Vegas oder San Diego zu wohnen? Die Bilder unter dem Titel „Fringes of Utopia“ zeigen weite, kaum überschaubare Räume, die nur mit dem Auto zu bewältigen sind, sonnendurchflutet, gleissend und dennoch kalt. Beton, anonyme Bauten, Zäune. Fussgänger gibt es nicht. In Brüssel geraten wir ins Innere der Behörden-Kästen und empfinden uns in jenem kahlen Ambiente selbst unter Menschen verloren. Sollen die Bilder sagen: das ist auch deine Arbeitswelt, wohlfühlen ist nicht angesagt?! In Japan hat sie dort fotografiert, wo europäische Architekten gewirkt haben, so dass ein Strassenzug (fast) in Osnabrück sein könnte, ein Architekturensemble (fast) in Berlin. Dieser Beitrag hat einen gewissen Witz, indem man an den Bildrändern nach Japanischem zu suchen beginnt. Auch die Serie „Code Orange“ von 2003 hat einen Witz, wenn auch einen absurden: Bettina Lockemann fotografierte in Washington und New York höchst banale Strassenszenen, in denen aber immer Absperrgitter, Überwachungskameras oder weisse Vans auftauchen. All das suggeriert, jedenfalls in dieser Zusammenstellung, dass Big Brother oder mafiöse Machenschaften im Spiel sind. Will Bettina Lockemann Verschwörungsszenarien einrichten? Das bleibt unklar.

Lockemann_2_bearbeitet-1

Lockemann_1_bearbeitet-1

Entfernt klingen in den Arbeiten (zum Beispiel in „Fringes of Utopia“) die New Topographics an, Lewis Baltz oder Robert Adams. Während diese jedoch ein Anliegen erkennbar werden liessen, etwa die völlige Zerstörung von Landschaft anzuprangern, vermisse ich so etwas bei Bettina Lockemann. Sie scheint mir lediglich auf die öde Realität hinweisen zu wollen und unter peniblem Verzicht auf persönliche Handschrift allein auf die misslichen Tatsachen zu zeigen, weder beeindruckt noch abgestossen. Die Fotografie ist ihr nur sachdienlich, und somit legt sie kein Fotobuch vor, sondern hat mit den Mitteln der Fotografie soziologische Essays verfasst.

Mich bewegt die Frage, ob jenseits von wissenschaftlichen Arbeiten, Katalogfotografie und dergleichen eine völlig unpersönliche Haltung in der Dokumentarfotografie sinnvoll ist. Dokumentarisch arbeitende Fotografen von Walker Evans bis Karl-Ludwig Lange haben sehr wohl einen künstlerischen Anspruch. Und meines Erachtens erreichen sie so mit ihrem Anliegen den Betrachter besser. Mir scheint, die Arbeit von Bettina Lockemann gehört zum Genre Konzeptkunst. Da geht es ja streng genommen nur um die Idee und eine Ausführung ist nebensächlich.”

Oder irre ich mich, und Bettina Lockemann hat doch gültige Porträts aller dieser Städte angefertigt? Werden auch Berlin, Paris, London bald derart gleichförmig aussehen? Haben wir die Heimatfotografie einer Weltbürgerin vor uns?

  • Titel: Kontaktzonen
  • Untertitel: Contact Zones
  • Bildautor: Bettina Lockemann
  • Textautor: Hans D. Christ, Iris Dressler, Susanne Holschbach
  • Herausgeber: Hans D. Christ und Iris Dressler
  • Gestalter: Sascha Lobe
  • Verlag: Hatje Cantz
  • Verlagsort: Ostfildern
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 23 x 17,2 cm
  • Seitenzahl: 280
  • Bindung: Softcover
  • Preis: 39,80 (vergriffen – antiquarisch erhältlich)
  • ISBN: 978-3-7757-3169-0

Kommentarfunktion geschlossen.