Improvisierte Projektionen

DDR-Fotogeschichte als künstlerische Installation

Andreas Krase (* 1958) ist eine wichtige Figur für die Fotogeschichtschreibung der DDR. Er war von 1985 bis 1990 Assistent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig mit der Aufgabe, den Studenten und Studentinnen der Fotoklasse fotogeschichtliche Kenntnisse zu vermitteln

Die HGB war die maßgebliche Institution für die Ausbildung von künstlerisch und/oder journalistisch orientierten Fotografen in der DDR. Krase tat dies anhand von tausenden Reproduktionen, die er selbst auf Schwarzweißfilm überwiegend aus gedruckten Werken aufgenommen, als Dias entwickelt, gerahmt, katalogisiert und in spezielle Archivschränke einsortiert hatte. Es war in der DDR nicht selbstverständlich und auch nicht einfach, ausländische Bücher zu fotogeschichtlichen Themen einsehen zu können; dafür relativ gut sortiert waren die hochschuleigene Bibliothek, in der selben Stadt die Deutsche Bücherei (heute Deutsche Nationalbibliothek), die auch zu DDR-Zeiten alle Neuerscheinungen, also auch die westdeutschen, sammelte, und in Berlin die Staatsbibliothek. Krases Recherche umfasste alle von ihm als nötig erachteten Abbildungen, also selbstverständlich auch solche aus westlichen Publikationen, die nicht standardmäßig im Osten vorhanden waren. 

Der Künstler und Kunsthistoriker Phillipp Goldbach (* 1978) wurde auf die noch vorhandenen Dias aufmerksam und machte, unterstützt von dem Kunsthistoriker Steffen Siegel (* 1976), aus diesem Schatz ein Ausstellungs- und Buchkonzept. Am Anfang bietet eine auf den Themenkreis Fotogeschichte/Lehre an der HGB fokussierte Sammlung von Stichworten von „Analog“ über „Beiler“ und „Pachnicke“ bis „Zufall“ einen knappen, aber nötigen Einstieg. Die zwischen Dokumentation und Künstlerbuch angesiedelte Neuerscheinung ist im Übrigen kein Fotobuch, auch wenn sie im Wesentlichen aus Reproduktionen besteht, ergänzt um Detailansichten der Dias in den Fächern der Archivschränke, um diffuse, an eine Projektion erinnernde Farbverläufe, und als Abschluss um eine Aufnahme von Goldbachs Wandinstallation (Lossless Compression…, 2024), wobei dies nicht das erste Mal war, dass der Künstler mit großen, obsolet gewordenen Diabeständen oder ähnlichem Ausgangsmaterial gearbeitet hat. 

Die Reproduktionen zeigen alle(?) Listen, die Krase für den Bestand angelegt und mit Schreibmaschine auf holzhaltiges Papier getippt hatte – und zwar so, dass man die Einträge gut lesen kann. So erfährt man, dass Krase zum Beispiel Repros aus Paul Wolffs Propagandabuch Arbeit! (1937, Nr. 2168ff.) oder von Ansel Adams (Nr. 662ff.) in seinen Bestand aufgenommen hatte, aber auch von August Sanders Antlitz der Zeit (Nr. 2500ff.), freilich in der Münchner Neuausgabe von 1980. Offenbar nutzte Krase sich bietende Gelegenheiten, auch Originalabzüge in sein Dia-Archiv zu integrieren wie Reisefotos aus der Collection Stübel (Nr. 1507ff.), wie sie 1988 in einer Ausstellung in der Fotogalerie Berlin zu sehen waren (Vorwort des dazu erschienenen Katalogs: Andreas Krase). Das fotogeschichtliche Interesse von Krase korrespondiert mit der allgemeinen Entwicklung in der DDR, wo seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre der Blick weg von dem wichtigsten Anknüpfungspunkt des Sozialistischen Realismus in der Fotografie, der Arbeiterfotografie der Zwischenkriegsjahre, auf andere kunsthistorisch wichtige Traditionen ging, um zu diskutieren, ob nicht auch diese für das aktuelle Schaffen in der DDR eine wichtige Funktion hätten. 

Das Buch bzw. die diesem zugrundeliegende künstlerische Arbeit von Goldbach ist also nicht nur eine Hommage an den damaligen Lehrbeauftragten und bis heute in anderen Funktionen für die Fotoszene einflussreichen Historiker, Autor und Kurator Andreas Krase, sondern bietet auch durch den Abdruck der Dialisten Material zur Erforschung dessen, was in der Lehre der HGB behandelt wurde. Wenn man künftig noch die im Hochschularchiv verwahrten Diplomarbeiten auswerten würde, erlaubte dies einen noch klareren Blick auf das, was in der DDR trotz oder wegen des Primats des Sozialistischen Realismus in der Fotografie möglich war.

  • Titel: Improvisierte Projektionen
  • Bildautor: Philipp Goldbach
  • Textautor: Steffen Siegel, Andreas Krase, Vorwort der Herausgeber
  • Herausgeber: Matthias Kliefoth, Rebecca Wilton
  • Gestalter: Mali Wychodil
  • Verlag: Distanz Verlag
  • Verlagsort: Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2025
  • Sprache: deutsch oder englisch
  • Format: 21 x 14 cm
  • Seitenzahl: 152
  • Bindung: Softcover
  • Preis: 16 €
  • ISBN: 978-3-95476-752-6 (deutsch), 978-3-95476-751-9 (englisch)
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