S wie Sehen

Dieser Tage ist das Buch S wie sehen auf den Markt gekommen, das eine Ausstellung über Kinder- und Jugendfotobücher in Lausanne begleitet. Die Neuerscheinung ist mit hohem Aufwand produziert worden,

aber ich bin mir nicht sicher, ob dabei wirklich DAS „Referenzwerk“ dabei herausgekommen ist, wie es sich die Museumsdirektorinnen gleich am Anfang (S. 5) zum Ziel gesetzt hatten. Denn dazu ist die Auswahl zu beschränkt und die Texte sind entweder zu kurz oder betreffen nur Nebenaspekte des fotoillustrierten Kinder- und Jugendbuchs. Für Leser wie mich, die eher handfeste Buchkunde bevorzugen, ist das zu wenig. Die Einleitung führt in das Thema ein, erscheint mir aber zu oberflächlich für den Anspruch der Herausgeberinnen.

Die ohne Frage bemerkenswerte Gestaltung ist im Stil der Zeit um 1960 mit kräftigen Farben gehalten; jedes Kapitel erhielt eine eigene Farbe, die mit einem unglaublich feinen Raster gedruckt wurde, sodass man auch bei Betrachtung des ebenso farbig gliedernden Buchschnitts denken könnte, dass durchgefärbtes Papier verwendet wurde. Die Kapitelüberschriften lauten: „Neue Erziehungsmethoden und Fotobücher für Kinder“ (gelb), „Bildung“ (grün), „Fiktion“ (blau), „Tiere im Mittelpunkt des Kinder- und Jugendfotobuches“ (violett), „Fotografik“ (rosa), „Zur Kreativität anregen“ (rot), die abschließende Bildbibliografie und die Seiten mit den Essays sind durch einen schwarzen bzw. beigen Farbton gekennzeichnet. Soweit, so sehr gut. Die Brillanz der Reproduktionen leidet ein wenig darunter, vor allem im schwarzen Kapitel am Schluss. Am Anfang ist immer eine halbe Seite mit Text eingebunden, zwischendurch auch (knappe) Erläuterungen zu den 108 einzeln vorgestellten, durchnummerierten Büchern ebenso auf verkürzten Seiten, die zudem duch die Verwendung von glänzendem Papier von dem sonst matten Inhaltspapier geschieden sind. Die Bilder zu den Buchvorstellungen laufen in jedem Kapitel parallel zueinander und dadurch entsteht auf den ersten Blick Verwirrung, aber bei genauerer Betrachtung ergeben sich Vergleichsmöglichkeiten unter den nach konzeptionellen bzw. thematischen Ähnlichkeiten eingruppierten Bänden. Die Umschläge oder Einbände nebst den bibliografischen Grunddaten sind unter den selben Buchnummern allerdings erst im schwarzen Schlussabschnitt zu finden, was gewöhnungsbedürftig ist.

Die Kapitelthemen sind plausibel konzipiert, wenn auch die Auswahl der Beispielbücher diskussionswürdig ist. Aber die Frage der Auswahl ist eigentlich bei jedem Buch über Fotobücher diskussionswürdig, weil es einfach zu viel Material gibt und man nie alles kennen bzw. vorstellen kann. Aber warum Aenne Biermanns Büchlein 60 Fotos von 1930 hier als Kinderbuch präsentiert und noch dazu mit einem langen Essay gewürdigt wird, darf man fragen, auch wenn die verwendete neusachliche Bildsprache als prototypisch für Foto-Kinderbücher dargestellt wird und es einige Kindermotive gibt. Sind William Wegmans Bücher, in denen Hunde in Rollen inszeniert wurden, trotz Märchenthemen hier wirklich am richtigen Platz? Die Korrekturleser oder -leserinnen (der mir vorliegenden deutschen Ausgabe) haben übersehen, dass die holländischen Nachschöpfungen zu Vater und Tochter Steichens First und Second Picture Book (1930 und 1931, Nr. 2 und 3), nicht, wie im Bildteil behauptet, anonym verfasst wurden, sondern Autorinnen haben, wie man später im (schwarzen) bibliographischen Teil korrekterweise nachlesen kann (Het eerste bzw. Het tweede prenten boek, 1932 und 1934, Nr. 4 und 5). Der Band Samozveri von Rodtschenko u.a. kann nicht 2004 nach einer Ausgabe von 2010 entstanden sein (Nr. 101 und S. 196) und die Serie des DDR-Verlags Volk und Welt hatte 13 Teile und nicht 12 (Nr. 43-47), wobei man den entwerfenden Grafiker (Hans Dahlke) gern hätte nennen können. Solche schon beim ersten Durchlesen aufgefallenen Nachlässigkeiten passen nicht recht zum Ehrgeiz, mit diesem Buch ein Referenzwerk vorzulegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Wunsch der Herausgeberinnen trotzdem in Erfüllung gehen wird, ist aber allein schon durch den Aufwand (drei Ausgaben jeweils in Französisch, Englisch und Deutsch) und die mehrere Stationen umfassende Ausstellungstournee und die damit erreichte Präsenz auf dem sonst wenig bestellten Feld der Sekundärliteratur über das fotoillustrierte Kinder- und Jugendbuch hoch.

Fazit: Das Buch ist innovativ gestaltet und produziert worden, der Inhalt hält da aber nicht ganz mit. Aber es gibt etliche schöne und bemerkenswerte Fotobücher zu entdecken und das ist ja auch schon mal etwas. Die Ausstellung werde ich mir später im Essener Museum Folkwang ansehen und ich bin gespannt, wie spannend das zu kreativen Gestaltungen inspirierende Thema dann dort präsentiert werden wird.

PS Wie Sie vielleicht bemerkt haben, sind wir mit dem Kasseler Fotobuchblog einige Zeit offline geblieben. Das lag daran, dass ich in den letzten Monaten intensiv an einem Buch über die Fotobücher aus der DDR gearbeitet hatte. Das ist jetzt in der Druckerei und hin und wieder werden Sie künftig hier wieder Rezensionen finden. 

Der Kasseler Fotobuchblog feiert mit diesem Beitrag, dem 668., seinen 20. Geburtstag. Aus diesem Grund haben wir das Erscheinungsbild des Blogs überarbeitet und vor allem hinter den Kulissen aktualisiert.

  • Titel: S wie Sehen.
  • Untertitel: Kinder- und Jugendfotobücher
  • Bildautor: (diverse)
  • Textautor: (diverse)
  • Herausgeber: Anne Lacoste, Rose Durr
  • Gestalter: Helmut Völter, Ina Kwoon
  • Verlag: Spector
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2025
  • Sprache: deutsch, auch in Englisch: L is for Look, und in Französisch: R comme Regarder
  • Format: 29 x 22,5 cm
  • Seitenzahl: 262
  • Bindung: Halbleinen
  • Preis: 52 €
  • ISBN: 978-3-95905-931-2
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