Gipsabgüsse waren über Jahrhunderte erste Wahl zum Studium antiker Skulpturen. In den Kunstakademien und Museen wurden entsprechende Sammlungen angelegt, um den Idealen der Antike im dreidimensionalen Objekt nah sein und deren Geheimnis ergründen zu können. Vermutlich ist diese Art des Reproduzierens inzwischen etwas aus der Mode gekommen… Amin el Dib (* 1961) konnte jedenfalls über Jahre in der über 2300 Beispiele versammelnden Gipsabgusssammlung der Skulpturhalle Basel fotografieren und das Projekt mit einem Buch abschließen.
Das quadratische Buch ist auffallend groß und irritiert durch die Haptik – die Vorderseite mit einem typischen Bildmotiv ist spiegelnd laminiert, die Rückseite ist mit einem rauen Leinenstoff bezogen. Die Fotos zeigen nicht nur die Skulpturen, sondern deuten auch ihre museale Umgebung an. Das Hauptaugenmerk liegt freilich nicht auf der Präsentation, sondern auf den Abgüssen. Diese transportieren nicht nur den idealen Naturalismus ihrer antiken Vorbilder, sondern auch deren Mängel wie Fehl- und Bruchstellen und darüber hinaus auch die eigene Geschichte der Reproduktionen mit ihren Abplatzungen, Verfärbungen, Transportschäden oder Abgussnähten. Zuweilen legt El Dib die Schärfe seiner Aufnahmen so, das der Blick auf bestimmte Konstellationen gelenkt wird, die, von den Kuratoren bei der Aufstellung beabsichtigt oder nicht, die Skulpturen in einer stummen Interaktion zeigen. Der Fotograf interpretiert die wegen ihres Materials empfindlichen Skulpturen mit ihren Gebrauchsspuren als Allegorie des Lebens schlechthin, aber auch als Symbol für eine heute musealisierte Kultur, die zu Zeiten des Klassizismus eine Hochphase hatte. Zusammen mit den immer unübersehbaren Zeichen des Hier und Jetzt – Restaurierungsspuren, farbige Flächen der musealen Raumfassungen, unscharf im Hintergrund erahnbare Erläuterungstafeln etc. – ergibt sich ein faszinierend vielschichtige fotografische Arbeit in bester Tradition des Pygmalion-Mythos: El Dib weckte die Gipsabgüsse mit fotografischen Mitteln zum Leben und führt die stumpfen Gipse wieder auf ihre Vorbilder, den Menschen in all seiner Verletzlichkeit, zurück.
- Titel: Von der Brüchigkeit des Seins
- Untertitel:
- Bildautor: Amin El Dib
- Textautor: Rolf Sachsse, Wolfgang Filser
- Herausgeber: Rolf Sachsse (lt. Buch), Winckelmann-Institut für Klassische Archäologie der Humboldt-Universität zu Berlin (lt. Verlagsseite)
- Gestalter: Richard Reisen
- Verlag: Wasmuth & Zohlen
- Verlagsort: Berlin
- Erscheinungsjahr: 2019
- Sprache: deutsch, englisch
- Format: 34 x 35 cm
- Seitenzahl: 88
- Bindung: Illustriertes Hardcover
- Preis: 58 Euro
- ISBN: 978-3-8030-3405-2