Vor knapp fünfzig Jahren mussten zahlreiche Weiße ihre Koffer packen. Die afrikanischen Kolonien, die unter anderen von Belgiern, Briten, Franzosen und Portugiesen autoritär unterdrückt wurden, befreiten sich von ihren Kolonialherren. Die schwarze Elite, die die Führung übernahm, war zornig und selbstbewusst: „Wir kennen Spott, Beleidigungen, Schläge, die morgens, mittags und nachts unablässig ausgeteilt wurden, weil wir Neger waren. Wir haben erlebt, wie unser Land im Namen von angeblich rechtmäßigen Gesetzen aufgeteilt wurde, die tatsächlich nur besagen, dass das Recht mit dem Stärkeren ist“, erklärte der neue kongolesische Premierminister Patrice Lumumba. Knapp sechs Monate später war er tot – erschossen im Auftrag der Belgier. Bis heute ist er die Ikone der afrikanischen „Tage der Freiheit“, auf die niemand richtig vorbereitet war. Denn alle entscheidenden ökonomischen und administrativen Funktionen waren bis dato von Weißen besetzt.
Was ist aus Lumumbas Vision von einem starken, unabhängigen Schwarzafrika geworden? Der südafrikanische Fotograf Guy Tillim reiste in den vergangenen zwei Jahren durch sechs afrikanische Länder, darunter Angola, Benin, Demokratische Republik Kongo, Ghana, Mosambik und Madagaskar. Er kehrte mit Fotografien zurück, die keine dramatischen Szenen zeigen, sondern eher eine stille, nachdenkliche Spurensuche sind – nach dem kolonialem Erbe ebenso wie nach dem gescheiterten Aufbruch. In allen Ländern reiste Tillim entlang „einstiger Traumalleen“, seltsam berührt von den fremdartigen modernen Bauten und patriotischen Denkmälern, die deren Ränder säumen: „Sie stehen da, wie aus der Zeit gefallen, als eine Art Mahnmal für eine gescheiterte Zukunftsvision“, sagte Tillim in einem Interview. Sein Fotobuch, das unter dem Titel „Avenue Patrice Lumumba“ vergangenes Jahr erschien, zeigt die modernen Betonklötze der Kolonialära ebenso wie die postkoloniale Architektur – in nüchternen, präzisen Bildern.
Die ausladende, einst prächtige Terrasse des Grande Hotels in Beira? Wird von den Bewohnern als Wasch- und Trockenplatz für Wäsche genutzt. Das Postamt von Likasi? Dort sind vor allem Spinnen aktiv und weben kunstvolle Netze über verwaiste Brieffächer. Die Statue des einstigen Kolonialverwalters von Quelimane? Liegt enthauptet am Boden, der abgeschlagene Arm von einem Autoreifen bedeckt. In der Bücherei des Sport Clubs von Kolwezi fügt sich die abblätternde blaue Farbe mit dem rostroten Untergrund zu einem wundersamen Moiré. Auf der Dachfläche des Apartment-Hauses in Beira werden die spielenden Kinder von den mächtigen Betonpfeilern verschluckt und wundern sich nicht mehr über den zugemauerten Turm, der gegenüber steht.
In der „Demokratischen Republik Kongo“ beispielsweise verfällt nicht nur der letzte Rest der kolonialen Moderne, sondern auch die Überbleibsel des diktatorischen Regimes einstiger kongolesischer Hoffnungsträger. Aus dem Aufbruch ist in vielen afrikanischen Ländern ein Absturz geworden: Korruption, Bürgerkriege und Stellvertreterkriege, Völkermord und Gemetzel – ausgelöst von größenwahnsinnigen, sich selbst bereichernden Führern. Alle Länder, die Tillim bereiste, gehören – obschon sie meist über wertvolle Bodenschätze verfügen – zu den ärmsten Ländern der Welt. Sind Kongolesen oder Ghanaer selbst Schuld daran, dass ihr Kontinent so heruntergewirtschaftet ist? Oder geben sie die letzten Reste europäischer als auch afrikanischer diktatorischer Herrschaft ganz bewusst dem Verfall und der Natur anheim? Tillim lässt dies offen: Er vermeidet Afropessimismus ebenso wie Aufbruchstim- mung. Mit seinen Fotografien, denen er nur Ortsangabe und Jahreszahl beifügt, fordert er den Betrachter zu eigenen Deutungen und Standpunkten heraus. Den leichten Weg bietet Tillim nie an: Dies zeigte der 47-Jährige bereits auf der documenta 12, wo er mit „Congo Democratic“ – einer ähnlich subtilen Fotoserie über die vermeintlich freien Präsidentschaftswahlen in Kinshasa – vertreten war.
Und Lumumbas Vision? Die meisten schwarzafrikanischen Staaten sind hoch verschuldet und von der westlichen Welt abhängiger denn je. Aber Ghana zeigt, dass der Übergang von der Diktatur zur Demokratie gelingen kann – und entwickelt mittlerweile große unternehmerische Kreativität. Lumumbas Traum von einem freien, demokratischen Afrika? Er ist nicht gänzlich ausgeträumt.
- Titel: Avenue Patrice Lumumba
- Untertitel:
- Bildautor: Guy Tillim
- Textautor: Robert Gardner
- Herausgeber:
- Gestalter:
- Verlag: Prestel
- Verlagsort: München
- Erscheinungsjahr: 2008
- Sprache: englisch
- Format:
- Seitenzahl: 128
- Bindung: illustriertes Harcover
- Preis: 49,95 Euro
- ISBN: 978-3-7913-4066-1