Ein Mammutprojekt ist das, was Lina Kim und Michael Wesely in dem vorliegenden Katalog lediglich andeuten. Seit 2003 beschäftigen sich die beiden Künstler damit, die Stadtentwicklung Brasilias aufzuarbeiten. Dazu haben sie in den städtischen Archiven recherchiert und mit Privatpersonen gesprochen, die viele der dokumentarischen Bilder aufgenommen haben.
Die Realisierung einer gesellschaftlichen Utopie habe sie interessiert, so erklären sie im Gespräch mit Annette Hüsch, Kuratorin der Ausstellung in der Kieler Kunsthalle, zu der der vorliegende Katalog erschien. Die 58 ausgewählten und in mühevoller Kleinarbeit restaurierten Archivbilder bilden nun eine Brücke zwischen der ursprünglichen Intention und der heutigen Realität der Stadt. Nachvollziehbar ist das vor allem für diejenigen, die in Brasilia leben oder es bereits mit eigenen Augen gesehen haben. Deshalb ist auch die umfangreiche Publikation Arquivo Publico, in der Kim und Wesely über 1000 Bilder zusammengetragen haben, bisher vermutlich nur in Brasilien erschienen.
Für die Ausstellung in Europa konzentrieren sie sich neben der Arbeit im Archiv auf eigene großformatige Fotoproduktionen. Mit der für Michael Wesely charakteristischen Arbeitsweise der Langzeitbelichtung fokussieren sie aktuelle Stadtansichten, die im Buch dem Archivmaterial vorangestellt sind. Von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends belichten sie einen städtischen Ausschnitt und fangen so die vergehende Zeit ein. Klischees wollen sie dabei nicht wiederholen, weshalb sie sich nicht ausschließlich auf die bekannten Brasilia-Motive konzentrierten, sondern Orte und Perspektiven suchen, die die Stadt in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Das Licht ist dann auch das Besondere an den Fotografien. Durch den täglichen Weg der Sonne am Himmel entstehen merkwürdige Lichtstreifen, die den Bildern eine unwirkliche Atmosphäre verleihen. Bewegungsunschärfen sorgen dafür, dass die Fotografien schattenlos nüchtern und nahezu menschenleer erscheinen. Eine Geisterstadt zu dokumentieren war sicherlich nicht die Absicht der Künstler. Dennoch ging es ihnen darum, die irreale, fast Science-Fiction ähnliche Stimmung einzufangen, die sie in Brasilia vorgefunden haben und die in engem Zusammenhang mit der utopischen Stadtplanung steht.
Schwer nachvollziehbar sind die Motive, die die Künstler für ihre Langzeitbelichtungen gewählt haben. Beim Blättern durch die Seiten fragt man sich, warum auf spektakuläre Sehenswürdigkeiten wie den Congresso Nacional unbelebte Busbahnhöfe oder triste Parkplätze folgen. Diese Kontrastierung könnte den städtischen Eindruck bereichern, funktioniert hier aber leider nicht aus sich selbst heraus, sondern nur mit Hintergrundwissen. Das vermitteln zum Glück die zahlreichen Textbeiträge im Katalog. Hier wird deutlich, dass die Künstler ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die Stadt einbringen wollten. So wird die typisch europäische Sicht Michael Weselys, die sich auf das Stadtzentrum mit seinen Sehenswürdigkeiten konzentriert erweitert auf die Satellitenstädte, die für BrasilianerInnen wie Lina Kim selbstverständlich zur Hauptstadt gehören. Ob eine andere Bildabfolge oder ein anderes Layout hier Abhilfe geschaffen hätten, bleibt offen. Man braucht eben Geduld für dieses langjährige Projekt, das sich nicht mit wenigen Blicken erschließen lässt.
- Titel: Archiv Utopia
- Untertitel: Das Brasilia-Projekt von Lina Kim und Michael Wesely
- Bildautor: Lina Kim, Michael Wesely
- Textautor: A. Hüsch, V. und M. Chaia, G. Dorfman, E. Stenzel, D. Zbikowski
- Herausgeber: Anette Hüsch
- Gestalter: Kehrer Design
- Verlag: Kehrer
- Verlagsort: Heidelberg
- Erscheinungsjahr: 2011
- Sprache: deutsch, englisch
- Format:
- Seitenzahl: 168
- Bindung: illustriertes Hardcover
- Preis: 39,95 Euro
- ISBN: 978-3-86828-221-4