O, du armer Tannenbaum…

Jahrelang gewachsen, irgendwann mit Säge und Beil aus dem Wald geholt, dann beim ambulanten Händler an der nächsten zugigen Straßenecke mit dutzenden Leidensgenossen auf kritische oder eilige Kundschaft wartend, von dieser umständlich ausgesucht, mühsam transportiert, aufwändig geschmückt, ein paar Tage bewundert, schließlich achtlos entsorgt – das Schicksal eines Weihnachtsbaums ist ein trauriges. Nikita Teryoshin (* 1986) hat sich der zeitlich begrenzten Existenz der Nordmanntannen und Edelfichten angenommen und ihnen ein Denkmal in Form eines lakonischen Fotobuchs gesetzt. Zu sehen sind Weihnachtsbäume nach dem Fest, beim Flug aus dem dritten Stock und dann irgendwo am Straßenrand gelandet. Oder, die Straße verfehlend, in den Ästen der Bäume oder auf der Laterne vor dem Haus hängend, herzzerreißend! Manche versuchten auch, das nach den Feiertagen unbarmherzig nadelnde Grünzeug überkorrekt in Beuteln und Tonnen zu entsorgen. Mitte Januar ist das sich jährlich wiederholende Spektakel vorbei und die ehemaligen Schmuckstücke aus den deutschen Wohnzimmern sind wieder verschwunden. Dann vielleicht als Futter oder Spielzeug für Elefanten im Zoo verwendet oder als Heizmaterial im Kraftwerk. Egal, ob inszeniert oder zufällig im entscheidenden Moment auf den Auslöser gedrückt – Teryoshins nachts mit grellem Blitz in Berlin aufgenommene skurrile Bilder funktionieren ohne Worte als Symbole einer unbarmherzigen Kreislaufwirtschaft. In nächsten Jahr geht es wieder von vorne los, eine neue Weihnachtsbaum-Generation wartet schon draußen im Wald. Frohes Fest!