Ein Dichter fotografiert und macht aus einem Jahrzehnt des Fotografierens ein Buch. Er schreibt also hierfür nicht selbst, sondern nutzt die Fotografie und damit einen anderen Dialekt für das, war er sagen möchte. Aus einzelnen Aufnahmen entstand ein Fotobuch, das zeigt, dass der Autor schon in der DDR, wo er lebte, die Kamera als Vergewisserung seines Selbst einsetzte. Reisen führten ihn nach Lettland und in die UdSSR. Nach der Wende nutzte er die neuen Möglichkeiten und er besuchte Italien, Frankreich und Brasilien. Reisen ohne Wegzumüssen – Florian Günther (* 1963) macht es für seine Leser möglich. Doch exotische Schauplätze und bekannte Sehenswürdigkeiten ändern nichts an der Haltung des Dichters zur Fotografie. Er verwendete Schwarzweißmaterial, erst von Orwo, dann von Ilford, schert sich nicht um die Bewältigung von technischen Problemen wie Schärfe, Kontrast oder Brillanz der Abzüge. Die Kompositionen sind ungekünstelt und alles in allem entsteht ein Bild von der Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit des fotografierenden Schriftstellers. Um dessen Fotos besser einordnen zu können, kommt man in die Versuchung, sie mit den Arbeiten Anderer in Bezug zu setzen. Das wäre selbstverständlich möglich, wenn auch wegen der beinahe unvergleichlichen Eigenwilligkeit von Florian Günther nicht einfach.
Das sowohl für Leser als auch für Betrachter sehr anregende Buch hat der Autor selbst konzipiert und gestaltet. Am Anfang gibt es zwei kurze Texte. Ein aufschlussreiches Kneipengespräch mit Günther ist über den ganzen Buchblock verteilt, was eine Gleichberechtigung von Wort und Bild andeuten könnte.
Der Fotograf zeigt seine Arbeiten vorzugsweise ohne Beschnitt, die schwarzen Ränder der Negative sind oft mitvergrößert. Viele Abbildungen wirken wie demonstrativ aus Kontaktbögen herausgesucht, wofür auch zuweilen auftretende farbige Markierungen stehen. Die Nummern und die Perforation der Filmstreifen blieben zuweilen sichtbar. Der schwarze Rand ist nicht nur eine Frage des Layouts. Denn jedes Bild ist das Ergebnis eines mehrstufigen Auswahlprozesses: ein mehr oder weniger durch gestalterische oder technische Manipulationen veränderter Ausschnitt aus der sich dem Fotografen bietenden Wirklichkeit, für das Buch aus allen gemachten Aufnahmen herausgesucht und kontextualisiert. Den komplexen Akt des Auswählens beim Fotografieren zu thematisieren, ist legitim, mag Günther auch für die Arbeit an dem Buch in besonderer Weise beschäftigt haben (nicht zuletzt, weil er frühere Fotos vernichtet hatte oder diese bis auf die Kontaktbögen „verschollen“ sind). Führt diese Reflexion weiter? Man sieht es ja sofort: Günthers Fotografie ist von A bis Z subjektiv, man könnte auch sagen: autobiografisch. Dafür bedurfte es nicht des beharrlichen Vorzeigens des Auswahl- und Abgrenzungsinstrumentariums. Man hat das Gefühl, dass der Dichter seine Fotobilder irgendwie bändigen und unter Kontrolle behalten wollte. Vielleicht wird er für sein nächstes Fotobuch mutiger und lässt dann seine Bilder wirklich aus dem Rahmen fallen…
- Titel: Reisen ohne Wegzumüssen
- Untertitel: Fotografien 1984-1994
- Bildautor: Florian Günther
- Textautor: William Cody Maher, Thomas Günther, Interview von Marvin Chlada mit dem Fotografen
- Herausgeber:
- Gestalter: Florian Günther
- Verlag: Edition Lükk Nösens
- Verlagsort: Berlin
- Erscheinungsjahr: 2012
- Sprache: deutsch
- Format:
- Seitenzahl: 304
- Bindung: illustrierte Klappenbroschur
- Preis: 29,80 Euro
- ISBN: 978-3-00-040114-5