Ein einzelnes Unfallbild mag ein spektakuläres Motiv ergeben. Bei hunderten Unfallbildern greift das Gesetz der Serie, was ganz andere Assoziationen hervorruft. Arnold Odermatt, der 1925 geborene Schweizer Polizist, hat ab 1948 über vierzig Jahre lang Auto-Karambolagen in den Kantonen seiner Heimat fotografiert. Vielleicht aus Pietät, vielleicht konnte er aber auch den Anblick der zerschmetterten Körper nicht ertragen (anders Enrique Metinides, der sich immer vor allem für die Opfer interessierte) – konzentrierte sich Odermatt immer nur auf das zerbeulte Blech. Aber wahrscheinlich kam Odermatt einfach stets erst dann an und zum Zug, als die Leichen und Verletzten bereits abtransportiert waren. Seine Aufgabe war, zu dokumentieren, aufzunehmen und das im Wortsinne. Leider erfährt man in dem opulenten Band nicht viel über Odermatt, aber vielleicht gibt es aus dem Leben eines Schweizer Dorfpolizisten auch nichts zu berichten. Der Filmemacher und Autor Urs Odermatt ist irgendwann auf die verstaubten Negative gestoßen und hat seitdem mehrere Bücher über das fotografische Werk seines Vaters ediert. Karambolage erschien erstmals 2003. Die Auflage ist längst vergriffen, weshalb Steidl diesen Band unlängst nochmals herausgegeben hat. Unfälle gehen ja immer. Ergänzt wurden lediglich die Ausstellungs- und die Publikationsliste.
Natürlich ist Odermatt nicht mit künstlerischen Ambitionen an die Unfallorte gefahren, jedenfalls zunächst nicht. Er hatte einen Job zu erledigen. Deshalb wird die (künstlerische) Qualität dieser Fotos überhaupt erst in der reihenden Anordnung deutlich. Jedoch hatte Odermatt, und das unterscheidet ihn vom banalen, sensationsgeilen Unfallknipser, nicht nur das Desaster im Blick, sondern auch die Umgebung, die Landschaft, in der sich das dramatische Geschehen ereignet hatte. Mit beeindruckender Tiefenschärfe und fast schon klassischer Kompositionsgabe gestaltete er diese Topografien des Verkehrsterrors. Vielleicht hat manch einer träumerisch die Berge betrachtet, bevor er in den Tod gerast ist. Es ist erstaunlich, auf welch bizarre Weise die Aufprallkräfte das Metall (ver-)formen können. Dabei entstanden Schrottskulpturen aus zerbeultem, geborstenem, zerstörtem, geknautschtem und auseinandergerissenem Metall in Straßengräben, Flussläufen, Unterführungen, auf Dorfplätzen, Feldwegen, Autobahnen, vor Bergpanoramen.
Der Mensch spielt bei Odermatt immer eine Rolle. Selbstverständlich in erster Linie in seiner Eigenschaft als (abwesendes) Unfallopfer. Bisweilen als Retter oder Helfer und noch viel mehr als staunender Betrachter, vulgo Gaffer. Jeder Unfall eine Sensation, jeder Schrotthaufen ein Epitaph. Manche Bilder tun förmlich weh, denkt man an die Leute, die in dem saßen, was zuvor mal ihr Gefährt war und in welchem sie sich geborgen wähnten. Zum Beispiel jenes Foto, auf dem sich ein Stahlträger auf der Beifahrerseite eines VW-Bullis durch die Frontscheibe ins Innere bohrt. Mein Gott, hoffentlich saß da keiner! (AG)
Der schon erwähnte, in Mexikolebende und arbeitende Fotograf Enrique Metinides (Jg. 1934) ist eine Art Enkel von Weegee, der jahrzehntelang immer dann mit der Kamera zur Stelle war, wenn irgendwo auf den Straßen ein Unfall oder ein Verbrechen passierte. Metinides ist, wie es Weegee war, Reporter, der seine Bilder an Zeitungen verkauft. Die Kunstszene hat ihn vor etwa einem Dutzend Jahren über seine Buchveröffentlichungen entdeckt. Für den breiteren Markt erschien diese internationale, auch in englischen und spanischen Versionen erhältliche Monografie mit Fotos von 101 durchnummerierten Tragödien. Das Buch ist unter Einbeziehung der originalen Abdrucke in Zeitungen gestaltet und immer mit der zum Bild gehörenden, vom Fotografen selbst erzählten kleinen Geschichte versehen. Die Frage, ob man das überhaupt und wenn ja, dann SO fotografieren und zeigen darf, bleibt offen und motiviert den Voyeur unter dem Deckmantel des Kunstgenusses zum Weiterblättern und -lesen.
Clou des Buches ist der in der Fotobuchgeschichte ganz selten vorkommende wendbare Schutzumschlag: ob man die matte weiße oder die hochglänzende schwarze Seite bevorzugt, bleibt dem Leser überlassen. (TW)
- Titel: Karambolage
- Untertitel:
- Bildautor: Arnold Odermatt
- Textautor: Urs Odermatt
- Herausgeber:
- Gestalter:
- Verlag: Steidl
- Verlagsort: Göttingen
- Erscheinungsjahr: 2013
- Sprache: deutsch
- Format:
- Seitenzahl: 408
- Bindung: Leinen mit illustriertem Schutzumschlag
- Preis: 58 Euro
- ISBN: 978-3-88243866-6
- Titel: 101 Tragödien
- Untertitel:
- Bildautor: Enrique Metinides
- Textautor: Trisha Ziff , Enrique Metinides
- Herausgeber: Trisha Ziff, Denise Wolff
- Gestalter: Emily Lessard
- Verlag: Kehrer
- Verlagsort: Heidelberg, Berlin
- Erscheinungsjahr: 2012
- Sprache: deutsch
- Format:
- Seitenzahl: 184
- Bindung: Hardcover mit doppelseitig bedrucktem Schutzumschlag
- Preis: 40 Euro
- ISBN: 978-3-86828-333-4