„Irreguläre Tage“ waren für Michael Schades Vater solche, an denen Westfernsehen geschaut wurde. Schade (1964-2004) wuchs in Cottbus auf und studierte zur Zeit der Wende Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig; insbesondere war Arno Fischer für ihn ein wichtiger Lehrer und Bezugspunkt für seine fotografische Haltung. Schade konnte zwar 1997 das bemerkenswerte, noch immer(!) beim Verlag lieferbares Fotobuch Counting Waves vorlegen, aber den Durchbruch auf dem Kunstmarkt schaffte er zu Lebzeiten nicht. Das Buch von 1997 handelte von Schades Reisen, zu denen er nach dem Ende der DDR aufbrechen konnte. Schon damals kombinierte er seine Fotos mit kurzen Texten und Tagebuchnotizen. Zudem arbeitete er an einem zweiten Buch, in dem das Verhältnis von Text und Bild umgekehrt war – wenige Fotos, lange autobiografische Texte. Schade hatte eine Doppelbegabung und schrieb so gut wie der fotografierte. Irreguläre Tage war schon 2001 fertig, konnte aber damals aus finanziellen Gründen nicht veröffentlicht werden. Aus Anlass einer inzwischen beendeten Ausstellung in Cottbus (wohin sein Nachlass geriet) und aufgrund einer nun gesicherten Anschubfinanzierung wurde das Buch doch noch gedruckt und erlaubt einen tiefen Einblick in die Jugend des Fotokünstlers. Man liest keine detailgetreue Autobiografie, sondern Literatur auf Basis eigener Erlebnisse. Insofern erinnert das Buch an Dirk Alvermanns Ende eines Märchens (1975) mit einer ähnlichen Ausgangsidee, allerdings ganz ohne Fotos. Denn Schade hatte für die Geschichten zur Erweiterung des Assoziationsraums passende eigene oder gefundene Fotos ausgewählt und vom Grafiker in das Buch integrieren lassen.
Schades Leben in der DDR wurde durch die Scheidung der Eltern, einem offenbar gut situierten Arztehepaar geprägt, durch die Großeltern und durch die immerwährende Notwendigkeit, Entscheidungen treffen zu müssen, was ihm schwer fiel. Nicht alle Geschichten sind bis ins letzte Detail auserzählt – dafür wird manchmal ein paar Seiten in einem anderen Zusammenhang noch etwas ergänzt. Das Leben in der DDR oder später als Student kurz vor oder nach der Wende zu Gesamt-Deutschland wird erstaunlich lakonisch als eine immerwährende Suche nach einem roten Faden geschildert. Schade übersteht den Wehrdienst bei der NVA in innerem Unbeteiligtsein. Freundinnen spielen wichtige Nebenrollen, Wohnungen geben keine Heimat, die Ereignisse von 1989/90 kommen gar nicht vor, ein Fläschchen Whiskey spendet zuweilen Trost. Dass man mit Beziehungen in der DDR viel erreichen konnte, klingt bei der Geschichte um die Beschaffung eines „echten“ Lederfußballs an, den der Vater für den Sohn organisiert. Die DDR ist bei den heranwachsenden Schade ein Land wie jedes andere, es wird nicht angeklagt, gejammert, beschönigt oder glorifiziert. Diesen Ton treffen auch die düsteren, oft gewagt angeschnittenen Fotos im Buch. Der Ich-Erzähler seziert sein einsames, zielloses Treiben mit unerbittlicher Präzision. Gern würde man mehr von ihm sehen oder lesen, doch der frühe Tod von Schade ließ sein veröffentliches Werk klein bleiben.
- Titel: Irreguläre Tage
- Untertitel:
- Bildautor: Michael Schade
- Textautor: Michael Schade, Nachwort von Anne König
- Herausgeber:
- Gestalter: Markus Dreßen
- Verlag: Spector Books
- Verlagsort: Leipzig
- Erscheinungsjahr: 2013
- Sprache: deutsch
- Format: 18,2 x 11,2 cm
- Seitenzahl: 224
- Bindung: Broschur mit Schutzumschlag
- Preis: 19,90 €
- ISBN: 978-3-940064-67-7
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