
Der Aufmerksamkeit bei solch einem Projekt ist sicher. Schiere Größe bewirkt ehrfürchtiges Schweigen. Vielleicht soll das so sein. Die Aufzählung der Superlative beginnt bereits auf dem inneren Vorsatzblatt im Stil von Elementar-Lyrik: „8 Monate / 1620 Kilometer / ein Bild aus 21449 Fotos“. Meine Frau, mein Haus, mein Boot… Stephan Kaluza (Jg. 1964) lief den Rhein von der Quelle bis zur Mündung entlang und drückte alle 70 bis 90 Meter auf den Auslöser. Etwa pro Minute ein Bild. Das 15 Zentimeter hohe Flussbild würde sich auf rund 4000 Meter Länge ausdehnen. Es abzulaufen, dauerte ca. 48 Minuten. Der Rhein im Buch ist etwa in 20 Minuten durchgeblättert. Die aufgeschlagene Doppelseite misst 80 Zentimeter, das Bild ist 10 Zentimeter hoch.
Das Verfahren ist nicht neu. Schon Ed Ruscha erprobte es 1966 mit „Every Building on the Sunset Strip“. Allerdings ist die bekannte Straße in Los Angeles gerade mal 35 Kilometer lang. Auch hier gilt: Eins zu null für Kaluza… Dass Kaluza sich ausgerechnet den Rhein aussucht, liegt wohl daran, dass es keinen Fluss in Mitteleuropa gibt, der derart mit Konnotationen und Bedeutungen aufgeladen ist. Man denke an Rheinromantik, Ritter und Drachen, die Loreley, die in Stromschnellen versunkenen Kähne, aber auch an die vielbeschworene- und besungene Schicksalsgrenze zwischen Frankreich und Deutschland. All das interessiert Kaluza bewusst nicht, und gerade das gehört zum Konzept seiner vollkommen wertfreien präzisen Erfassung der landschaftlichen Totalität linkes Rheinufer. Grüne Auen, Weinberge, Industrieanlagen, Häfen, Uferbefestigungen – alles ist gleich bedeutend. Aber: In der Mitte des Buches gibt es plötzlich einen Bruch: Über mehrere Seiten tauchen bildfüllende Menschenmassen auf, leicht von oben fotografiert. Stehen sie vielleicht auf dem Fluss? An anderer Stelle verschwindet der Rhein, im Vordergrund steht eine Bushaltestelle, hinten erstrecken sich abgeerntete Weizenfelder. Warum diese irritierenden Abweichungen?
Es sei Kaluza darum gegangen, so Jürgen Raap im Vorwort, „eine komplexe Realität“ komprimiert zu erfassen. Das ist ihm zweifellos gelungen, auch wenn die Realität für das schön gestaltete Buch nochmals komprimiert, sprich gekürzt, wurde. Der Weg erweist sich hier als Ziel der Fotografie. Deutlich wird zudem: Das Medium ist einmal mehr die Botschaft. Denn nur die digitale Fotografie erlaubt die fugenlose Aneinanderreihung von Einzelbildern zu einem derartigen Gesamtbild, was Raap übrigens ausdrücklich betont. Sollte Kaluza dieses Riesenbild nur deswegen aufgenommen haben, weil es nun einmal technisch möglich ist? Richtig interessant könnte es werden, wenn jemand – vielleicht Kaluza selbst ? den Rhein in 30 Jahren wieder fotografiert. Dann wäre die Veränderung das spannende Thema.
- Titel: Der Rhein, The Rhine, Le Rhin
- Untertitel:
- Bildautor: Stephan Kaluza
- Textautor: Jürgen Raap (Vorwort)
- Herausgeber:
- Gestalter: Silke Fahnert, Uwe Koch
- Verlag: DuMont
- Verlagsort: Köln
- Erscheinungsjahr: 2007
- Sprache: deutsch, englisch, französisch
- Format:
- Seitenzahl: 420
- Bindung: Leinen, Schutzumschlag, Schuber
- Preis: 98 Euro
- ISBN: 9783832190170