Das Buch sieht aus wie eine überdimensionale Chinakladde. Gewicht: Rund fünf Kilo. Die Dimensionen signalisieren keine Bescheidenheit. Warum auch? Gefeiert wird einer der größten Meister der Filmkunst überhaupt und zwar im Breitwandformat: Aufgeschlagen misst die „Kladde“ knapp 85 cm in der Breite und 30 cm in der Höhe! Vorhang auf für Stanley Kubrick! Der Foliant besteht aus zwei Teilen: Die erste Hälfte lässt Kubricks Filmwerk Revue passieren. Zwölf Filme in 45 Jahren, das ist eigentlich nicht viel. Andere schaffen mühelos einen Streifen jährlich. Von „Kiss Me, Kill Me“ (1955) bis „Eyes Wide Shut“ (1999) eröffnet sich indes ein ganz spezielles filmisches Universum, dem man sich selbst in Buchform nicht entziehen kann. Der Band versammelt keine Stills – also nachträglich im Studio inszenierte Filmszenen – sondern ordnet sorgsam ausgewählte Standbilder vom Vor- bis zum Abspann so an, dass der Gesamteindruck des Spielfilms jeweils fassbar wird, denn keine Erläuterung beeinträchtigt das visuelle Erlebnis.
Anlässlich der Dreharbeiten zu „2001 – Odyssee im Weltraum“ wurde Stanley Kubrick in einem Interview gefragt, ob es für einen Regisseur üblich sei, sich aktiv um die fotografische Seite der Filmproduktion zu kümmern? Kubrick antwortete darauf, dass er noch nie einen anderen Regisseur bei der Arbeit zugeschaut habe. Die Antwort ist typisch, denn sie zeigt zunächst, dass Kubrick sich um nichts weniger kümmerte als um Konventionen. Und das spiegelt sich in seiner Arbeitsweise.
Er holte das Beste aus Schauspielern und Kameraleuten heraus, spornte sie zu Höchstleistungen an, weshalb jedes Einzelbild in diesem Band ein faszinierendes fotografisches Kunstwerk in Komposition und Ausdruck darstellt. Jedes Bild kann für sich allein stehen, den jedes trägt die Geschichte des ganzen Films in sich. Kubrick war Perfektionist, gleichsam das Auge der Kamera. Weil er die Filmkamera vor allem später nicht mehr selbst bedienen durfte (das verbot die Gewerkschaft), bestimmte er den optimalen Standpunkt mit der Fotokamera, um seinen Kameraleuten wenigstens die Richtung zu weisen.
Schon als Fotoreporter für die Illustrierte Look in den frühen Fünzigerjahren hatte er nichts dem Zufall überlassen: Obwohl zahlreiche seiner Fotos wie beiläufig eingefangene Momente höchster Intensität wirken, sind es Inszenierungen. Kubrick war es schon als Reporter immer zuerst um die Bildaussage gegangen. Für ein gutes Reportagefoto manipulierte er notfalls die Wirklichkeit, wenn diese nicht seinen imaginierten Bildvorstellungen entsprach.
Der zweite Teil des Bandes vergegenwärtigt den intensiven kreativen Prozess, der jedem Film vorausging und begleitete: Interviews, Zeitungsartikel, Essays, Arbeitsnotizen und Korrespondenzen im Faksimile, Aufnahmen von den Sets etc., kurz eine unglaubliche Materialsammlung, ein gigantisches Puzzle als Quintessenz intensiver Recherchen der Herausgeberin in Kubricks privatem Archiv.
Der vorzüglich gestaltete und gedruckte Band erscheint in englischer Sprache, um ihn international vermarkten zu können, wogegen nichts einzuwenden ist. Ein 150-seitiges Beiheft bringt sämtliche Texte und Bildunterschriften in drei Spalten auf deutsch. Hier hat der Verlag an der falschen Stelle gespart. Eine größere Schrifttype, hundert Seiten mehr, und man hätte mit Genuss lesen können. So ist das Lesen eine ärgerliche Qual, die ohne Aufwand und ohne nennenswerten Mehrpreis hätte vermieden werden können.
- Titel: The Stanley Kubrick Archives
- Untertitel:
- Bildautor: Stanley Kubrick
- Textautor:
- Herausgeber: Alison Castle
- Gestalter:
- Verlag: Taschen
- Verlagsort: Köln
- Erscheinungsjahr: 2005
- Sprache: englisch, Beiheft in deutscher Sprache
- Format: 42 X 30,5 cm
- Seitenzahl:
- Bindung: Hardcover, mit Interview-CD und Filmstreifen von „2001-Odyssee im Weltraum“
- Preis: 150 Euro
- ISBN: 3822842400