Prag – Dinge und Menschen

Kein Prag-Buch von Stephanie Kiwitt

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Stephanie Kiwitt hat diese Bilder aufgrund eines Ellen-Auerbach-Stipendiums 2016 in Prag aufgenommen. Sie spricht tschechisch und kennt sich in Prag aus. Sofort wird jedoch klar, dass sie kein Prag-Buch unterbreitet. Ein erstes Durchblättern legt nahe, dass sich die Autorin in die Nähe der tschechischen Surrealisten begibt, in die Traditionslinie von Emila Medková, Vilém Reichmann über Karel Kuklík bis zu Miroslav Machotka und Pavel Jasansky/Martin Polák. Stephanie Kiwitts surrealistische Blicke kulminieren in einem Bild, auf dem bewegungsunscharf ein Feudel in einen Eimer fällt und plötzlich zu einer Geistererscheinung wird. Wie hier aus einer Bewegung heraus eine bildliche Irritation entsteht, habe ich nur einmal andeutungsweise bei Karel Kuklík gesehen, denn der tschechische Surrealismus kennt sonst vorwiegend statische Bilder.

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Genauer ist jedoch zu sagen, dass Kiwitt das Surrealistische nicht überzieht, sondern eher einen heutigen Blick auf skurrile Alltags-Momente, isolierte Gesten und absurde Fundstücke wirft. Einmal gibt es eine Hommage à Josef Sudek „Fenster meines Ateliers“: Die Fotografin blickt durch ein beschlagenes Fenster in einen Hinterhof mit Baum und Wäscheklammern auf der Leine. Menschen kommen vielfach vor, sei es in ihrem Auftritt auf der Strasse oder nur ihre zerrissenen Jeans, ihre Frisuren oder Flip-Flops. Dazu tritt, über das Buch verstreut, eine Reihe von Porträtköpfen. Diese erinnern in ihrer Nüchternheit vor meist neutralem Hintergrund ein wenig an Michael Schmidts eigentümlich blutleere Bildnisse. Im Gegensatz zu Schmidt stellt uns Kiwitt „fassbare“ Menschen gegenüber. Seien es Zufallsbekanntschaften oder Freundinnen und Freunde der Autorin, man vertieft sich angeregt in ihre Gesichter und wäre einer Unterhaltung mit ihnen nicht abgeneigt. Ob sie gar die heutigen tschechischen „nach-kommunistischen“ Menschen darstellen (wie der Verlag meint), vermag ich nicht zu sagen – eine doch recht verwegene These.

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Die Doppelseiten im Buch sind fein komponiert mit Leerseiten dort, wo sie Sinn ergeben. Bei der Machart bin ich ein wenig unglücklich über das hochglänzende Papier, aber dadurch lässt sich mit offenbar einfarbigem Druck höchstmögliche Brillanz erzielen.

Wenn auch kein Prag-Buch, so ist die Stadt in den Bildern durchaus präsent. Dazu kommt mir ein Ausspruch Paul Strands – von dessen Bildauffassung Kiwitt weit entfernt ist – in den Sinn: „Ich fotografiere die Dinge, die einen Ort zu dem machen, was er ist; das heisst, nicht genau wie jeder andere Ort und doch mit anderen Orten verwandt.“

  • Titel: Máj/My
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Stephanie Kiwitt
  • Textautor: Stephanie Kiwitt
  • Herausgeber: Co-published mit Akademie der Künste, Berlin und Camera Austria, Graz
  • Gestalter: Markus Dreßen
  • Verlag: Spector Books
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: tschechisch, englisch
  • Format: 25 x 19,5 cm
  • Seitenzahl: 128
  • Bindung: Klappenbroschur
  • Preis: 28 Euro
  • ISBN: 978-3-95905-239-9

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