Idyllen und Schrecken

Dieter Keller führt den Krieg vor Augen

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Darf man das Grauen des Zweiten Weltkriegs ästhetisieren? Als vor einigen Jahren die Trümmerbücher von Herbert List (Memento 1945, 1995) oder Chargesheimer (Schöne Ruinen, 1994) herauskamen, wunderte man über die surreale Qualität der darin enthaltenen Fotos. Andere Fotografen (Richard Peter, Hermann Claasen) hatten nicht minder wuchtige Bilder zu bieten, wurden aber, weil zeitgenössisch publiziert, von der Propaganda der ersten Nachkriegsjahre vereinnahmt. Krieg ist immer schlimm, darf man Bilder davon aus künstlerischem Interesse machen? Ja, es wurde getan, weil das Gesehene sich einbrannte und verarbeitet werden musste, siehe List, siehe Chargesheimer. Eine zeitnahe Veröffentlichung im Kontext der Kunst war aber vorerst nicht möglich; bezeichnenderweise erschienen diese Arbeiten erst in gehörigem Abstand zu ihrer Entstehungszeit.

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So auch die 1941/42 in der Ukraine entstandenen Fotos von Dieter Keller (1909-1985), dessen Familie Miteigentümer des Kosmos-Verlages in Stuttgart war. Keller musste als Soldat am Russlandfeldzug Hitlers teilnehmen. Er hatte eine Kamera dabei und nahm auf, was er sah – und das vor dem Hintergrund seines Interesses an der Kunst der Moderne, an Surrealismus und Avantgarde. Erstaunlich, dass er das überhaupt tun konnte – das Bild des Krieges war (und ist) ja aus Propagandagründen streng reglementiert. Die Negative konnte er erst später zuhause entwickeln, er machte dann 201 Abzüge und nur diese blieben erhalten. Lange nach dem Tod des Fotografen gelangte nun eine Auswahl dieser Bilder in die Öffentlichkeit, und zwar in der naheliegenden und passenden Form eines Fotobuches. Die Lichtbilder wurden dabei mit dem Ziel angeordnet, aus dem disparaten Material eine Narration herauszukristallisieren. Das lag nahe, denn Keller ist immer wieder auf bestimmte Motive (wie brennende und zerstörte Häuser, verscharrte Leichen, scheue Kinder, magere Pferde, pittoreske Baumgruppen und Ruinen, weite Landschaften, überrschende Naturdetails) zurückgekommen, was von Grafikerin und Verleger erspürt wurde und was sie dann durch Gruppierung und Sequenzierung interpretierten und zur Entfaltung brachten. Wenn es nötig war, griffen die beiden sogar auf Ausklapptafeln zurück. Das Buch ist in seiner uneitlen Gestaltung ganz den atemberaubenden Fotos untergeordnet. Einige Motive hätten von Walker Evans, aus dem Paris oder Prag der Surrealisten oder aus dem Bauhaus stammen können, so modern und avantgardistisch muten sie an. Aber: Nur der von abertausenden Opfern begleitete deutsche Einmarsch ermöglichte diese zwischen offenem Schrecken und trügerischen Idyllen oszillierenden Motive, gerade dieser Kontext irrtitiert und bringt den moralischen Kompass durcheinander.

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Das Buch dürfte kontrovers diskutiert werden. Die sich einstellende Ambivalenz aus Betroffenheit über die zuweilen drastischen Sujets und Erstaunen über die gestalterische Meisterschaft des Fotografen wird gesteuert durch das schlichte, aber raffinierte Layout. Dies hebt die Neuerscheinung souverän aus dem trägen Fluss der aktuellen Fotobuchproduktion hervor. Es bleibt sehr zu hoffen, dass sie nicht im reißenden Strom des coronabedingten Chaos untergeht.

PS Eine eigentlich zur Buchvorstellung geplante Ausstellung in Berlin wurde auf den Herbst verschoben.

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  • Titel: Das Auge des Krieges – The Eye of War
  • Untertitel: Ukraine 1941/42
  • Bildautor: Dieter Keller
  • Textautor: Adam Broomberg/Xiaofu Wang, Norbert Moos
  • Herausgeber: Norbert Moos
  • Gestalter: Ana Druga, Thomas Gust
  • Verlag: Buchkunst Berlin
  • Verlagsort: Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 20,5 x 24,5 cm
  • Seitenzahl: 118 (inkl. Ausklappseiten)
  • Bindung: Leinen mit montierter Abbildung
  • Preis: 38 Euro
  • ISBN: 978-3-9819805-2-3

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