Warum erst jetzt?

Vor 31 Jahren fiel die Mauer in Berlin. Warum gibt das verschwundene Bauwerk noch immer den Anlass, ein Fotobuch dazu zu machen? Wenn die Bilder und das diese präsentierende Buch so frisch und ungewöhnlich sind wie im Falle der Neuerscheinung Standing by the Wall – Berlin 1990 bleibt nur zu fragen: Warum erst jetzt?

Der Fotograf und Kameramann Josef Wolfgang Mayer (* 1948) machte sich im Sommer 1990 auf die Suche nach interessanten und charakteristischen Motiven des „antifaschistischen Schutzwalls“ und fotografierte diese im großen Mittelformat 6 x 9 cm in Farbe. Er erzielte vom selben oder zumindest nur wenig versetzten Standpunkt und durch Schwenken der Kamera mehrere unterschiedliche Ausschnitte eines Motivraums. Diese wurden nicht zu einem großen Panorama „gestitcht“, also per Software zusammengefügt, sondern verblieben in ihren individuellen Ausschnitten und Kompositionen. Jedes Bild hat einen weißen Rand und ist als Einzelbild erfahrbar. Assoziationen zur nüchternen dokumentarfotografischen Traditionslinie der „New Topographics“ stellen sich nicht zufällig ein…

Im Buch haben die Gestalter die ursprünglichen Situationen durch die Kombination mehrerer Aufnahmen, die in ein und denselben Motivraum zeigen, wieder hergestellt und zu Triptychen zusammengeführt. Der Einsatz von Ausklappseiten ermöglicht überraschende, panoramaähnlichen Perspektiven. Nur am Anfang und am Ende gibt es ausnahmsweise Einzel- und Doppelansichten. Durch das Ausfalten ergibt sich eine Kontinuität beim Betrachten, die dem langen Band der Mauer angemessen ist. Leerstellen inklusive, ging es Mayer doch nicht um eine möglichst vollständige Abwicklung des Sperrwerks (was von anderen durchaus versucht wurde), sondern um detailreiche und aussagekräftige Motive, die die Wunde im Organismus der Stadt erfahrbar machen.

Das betont schlicht gestaltete, hinsichtlich der Klapptafeln buchbinderisch präzise verarbeitete, bestens gedruckte Buch verblüfft also trotz des motivisch „alten Huts“ mit Fotos, die durch ein so einfaches wie raffiniertes Layout einen perfekten Auftritt erhielten.