Wilson Hicks ist in den 1940er-Jahren eine Institution: Er leitet die Bildredaktion des Life-Magazins – und von einer Story ist er nicht so leicht zu überzeugen. 1948 taucht der Fotoreporter Gordon Parks in seinem Büro auf und schlägt ihm einen Fotoessay vor, der schlicht zu gut ist, um ihn abzulehnen. Parks selbst hat große Ambitionen: Er will die Jugend-Gangs in Harlem dokumentieren, überzeugt davon, dass „eine solche Geschichte helfen könne, schwarzen Kindern klarzumachen, welche Torheit es ist, sich gegenseitig umzubringen”. Leonard „Red” Jackson entpuppt sich als der ideale Protagonist für den Essay; er ist der Boss der Harlemer Gang The Midtowners. Parks braucht Wochen, um das Vertrauen des 17-Jährigen zu gewinnen, aber seine Argumente sind überzeugend: Parks ist ebenfalls schwarz, stammt aus ärmlichen Verhältnissen – und er hat eine Vision: das Ende von Armut und Rassismus.
Im Herbst 1948 schießt Parks hunderte Fotos: von Red Jackson, dessen Familie, den Mitgliedern der Midtowners. Man bekommt eine Ahnung von dem bitteren Leben in Harlem zu dieser Zeit, dem Teufelskreis aus Armut, Frustration und Gewalt. Die Negative liefert der Fotograf brav ab – und die Redakteure von Life formen daraus ihre Erzählung. Im November 1948 erscheint diese unter dem Titel Harlem Gang Leader; der Essay erstreckt sich über neun Seiten, 21 Fotos illustrieren ihn. Als Red das Magazin in die Hand bekommt, ist er fassungslos. „Verdammt Mr. Parks, Sie haben einen Kriminellen aus mir gemacht!” schleudert er dem Fotografen ins Gesicht. Aber Parks fragt sich ja längst selbst: Was haben die Typen von Life mit seinen Fotos angestellt?
Man kann darin wahlweise eine Obsession oder aber wissenschaftliche Akribie sehen, dass Russel Lord, Kurator des New Orleans Museum of Art, dieser Frage nachgegangen ist. Die Antwort ist komplex ausgefallen, sie füllt ein Buch, das jetzt unter dem Titel Gordon Parks: The Making of an Argument erschienen ist. Es stimmt ja: Der Essay ist aufgeladen mit Bedeutung. Gordon Parks war der erste schwarze Fotograf, der im Auftrag von Life Fotos schießen durfte. Doch es waren weiße Redakteure, die den Text dazu verfassten und die Fotos auswählten; dass sie manipulativ eingriffen, die Fotos beschnitten, Kontraste verstärkten, gehörte zum Machtspiel wohl dazu. Gordon Parks konnte dem nicht viel entgegensetzen; er wollte vor allem eines: im Spiel bleiben.
Auch das Streben der Blattmacher überrascht kaum: Auflage machen, Aufmerksamkeit erzeugen – und dies bei einer weißen Leserschaft. Mit dem journalistischen Ethos nahmen sie es nicht so genau. Kein Journalist von Life hatte je mit Red gesprochen, doch der Essay – eine Reproduktion des Originals ist im Buch abgedruckt – täuscht genau diese Nähe vor: Es wimmelt von Zitaten. Woher stammen diese? Hat Parks das alles mitgeschrieben? Eher unwahrscheinlich. Vieldeutig ist auch, welche Fotos die Redakteure zur Illustration ihrer Erzählung verwenden. „Um die mit der Subline und dem Introtext geweckten Erwartungen zu erfüllen, zeigen eine überwältigende Mehrheit der ausgewählten Bilder Momente der Gewalt, Angst, Frustration, Aggression oder Verzweiflung”, schreibt Lord dazu. Und er belegt das: So stellt er dem Essay das Ausgangsmaterial gegenüber: Vintage Prints, Kontaktabzüge, Proofs.
Gordon Parks starb 2006: Sein Lebenswerk ist beeindruckend. Er war von 1948 bis 1972 fester Mitarbeiter bei Life, dokumentierte die Armut und die Rassendiskriminierung in den USA und der Welt, gründete 1970 mit Essence ein Lifestyle-Magazin für Afroamerikaner, wechselte ins Regiefach und brachte 1971 mit dem Detektiv John Shaft den ersten afroamerikanischen Kinohelden in die Welt. Über vier Jahrzehnte, von 1963 bis 2005, arbeitete er an einer gewaltigen fünfbändigen Autobiografie, deren erster Teil 1969 verfilmt wurde – von ihm selbst. Und noch zu Lebzeiten gründete er mit Philip B. Kunhardt, Jr., die Gordon Parks Foundation, die bis heute sein mannigfaches Werk verwaltet und 2012 sechs Fotobücher aus dem schier unüberschaubaren Fundus zusammenstellte (erschienen im Steidl Verlag).
Doch in all diesen Jahren hat Gordon Parks nie vergessen, dass er Red noch etwas schuldig war. Kurz vor seinem Tod eröffnete er eine Ausstellung mit ausgewählten Werken – und an den Wänden waren auch die „verlorenen Fotos” zu sehen. Sie zeigen Red von einer anderen Seite: warmherzig, fürsorglich, verletzlich. Die Geschichte vom bösen Bandenboss, holzschnittartig gezeichnet: Sie war eine Mär der Life-Redakteure.
- Titel: Gordon Parks: The Making of an Argument
- Untertitel:
- Bildautor: Gordon Parks
- Textautor: Russell Lord, Susan M. Taylor, Peter W. Kunhardt, Jr., Irvin Mayfield
- Herausgeber: Steidl Verlag mit The Gordon Parks Foundation und The New Orleans Museum of Art
- Gestalter: Duncan Whyte, Peter W. Kunhardt, Jr., Gerhard Steidl
- Verlag: Steidl
- Verlagsort: Göttingen
- Erscheinungsjahr: 2013
- Sprache: englisch
- Format:
- Seitenzahl: 136
- Bindung: Hardcover, illustrierter Schutzumschlag
- Preis: 35 Euro
- ISBN: 978-3-86930-721-3