Michael von Graffenried haben Journalisten schon vieles nachgesagt: Er sei der „Showmaster der Fotografenzunft” und selbst „sein Geschäftssinn ist branchenbekannt.” Aber war er jemals ein Nostalgiker? Das zumindest hat ihm noch keiner unterstellt. Und doch scheint er sich jetzt ganz dem Sentiment hinzugeben. Denn von Graffenrieds aktuelles Fotobuch ist einer gestrigen Technik gewidmet: der analogen Fotografie und dem 35-mm-Film. Aber bei von Graffenried, der so ernsthafte und großartige Bücher wie Swiss Image (1989), Sudan, der vergessene Krieg (1995), Nackt im Paradies (1997) oder Algerien, der unheimliche Krieg (1998) vorgelegt hat, schwingt diesmal ein seltsamer Unterton mit. So prangt das Logo der Leica Camera AG bereits auf der Titelseite des neuen Buchs – und im Abgesang bedankt sich der Autor bei dem Solmser Unternehmen brav. Schließlich geht es ja nicht um irgendeinen Film, sondern den 35-mm-Leica-Film. Ist das Werk also kaum mehr als ein Testimonial?
Werbung überall, der ganz normale Wahnsinn eben. Und den Weltenwahnsinn zeigen auch die Bilder des Buchs. Ein kurzer Ausschnitt daraus? In New York entlässt Nicole Kidman einen weiteren sinnfreien Film in die Welt und wird womit belohnt? Mit weiteren Millionen. In Bangladesch verkauft ein Junge zusammengeklaubte alte Pappen, um sich was zu leisten? Eine Schale Reis. In den USA marschieren Pazifisten durch die Straßen und verkünden, was sie von Krieg und Gewalt halten: nichts. Im Südsudan hingegen sehen junge Männer genau darin ihren Sinn: im bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit ihres Landes. Dieses absurde und „große Welttheater” (so der übersetzte Untertitel des Buchs) könnten sich auch übergeschnappte Titanen des deutschen Regietheaters ausgedacht haben. Aber auch der Schweizer Michael von Graffenried hat die Dekonstruktion sehr gut drauf. Die klassische Erzählform sucht man vergeblich. Einziges Ordnungsprinzip bei ihm: das Jahr, in dem die Fotos entstanden sind. Schauplätze und Personal? Spiegeln die Abgründe und Obszönitäten dieser Welt. Und nur selten blitzt ein Moment des Glücks oder eine Portion Witz und Ironie hervor. Das Leben der Menschheit? Ist kaum mehr als ein „Mixed Portfolio”.
Ist das nun der philosophische Kern des Werks? Eher nicht. Denn, was läuft als Subtext mit? Hier wurde Politisches und Privates nicht irgendwie, sondern auf 35-mm-Film gebannt. Man ahnt es bereits: Von der analogen Fotografie wird Michael von Graffenried so schnell nicht lassen. In Interviews macht er folgerichtig keinen Hehl daraus, dass er von der digitalen Fotografie wenig hält. Fotografen, die ihre Bilder am Computer nachbearbeiten, sie dramatisieren oder gar inszenieren sind ihm ein Gräuel. Den Begriff der Wahrheit, des Authentischen fasst von Graffenried ohnehin eng. In Magazinen veröffentlicht der 55-Jährige längst nicht mehr, denn er ist sich sicher: Mit begleitenden Texten lässt sich die Aussage einer Fotografie ebenso leicht manipulieren wie mit Photoshop. Von Graffenried hat sich folgerichtig aus dem journalistischen Betrieb zurückgezogen. Er zeigt seine Fotografien in Ausstellungen und macht alle paar Jahre ein Buch – mit wechselnden Qualitäten. Das vorliegende Buch markiert wohl den Tiefpunkt: Es hat kein erkennbares Konzept, die Gestaltung ist fad und ideenlos, das gewählte Format ohnehin ein Rätsel. Wohl wahr: In diesem Jahr werden sich Graffenried-Fans verwundert die Augen reiben. Versöhnt der Schweizer sie demnächst wieder mit einem guten Buch?
- Titel: 35 mm Leica Film
- Untertitel: El gran teatro del mundo
- Bildautor: Michael von Graffenried
- Textautor: Hans-Michael Koetzle
- Herausgeber:
- Gestalter: Gerhard Blättler
- Verlag: Benteli
- Verlagsort: Bern
- Erscheinungsjahr: 2012
- Sprache: deutsch, englisch
- Format: 148 x 210 mm
- Seitenzahl: 196
- Bindung: Softcover
- Preis: 22,50 Euro
- ISBN: 978-3-7165-1732-1
Dies ist dann wohl ein Verriss, die Empfehlung lautet also im Klartext: Spare Dir die 22,50 Euro für dieses Buch.