Der Sisyphos aus Detroit

Der Fotograf Harry Callahan variierte 60 Jahre lang drei Grundthemen – mit überwältigendem Erfolg.

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Harry Callahan führte in den 1930er Jahren ein überschaubares, aber auch ödes Leben. Seine Frau Eleanor und der schlichte Bürojob bei Chrysler Motors gaben seinen Tagen den Rhythmus vor. So hätte es ewig weitergehen können. Aber dann entdeckte Callahan die Rolleicord für sich, eine neue und vor allem erschwingliche Spiegelreflexkamera, und machte eine existenziell bedeutsame Erfahrung: Der schwarze Kasten half ihm perfekt dabei, seine Gefühle und spezielle Form der Weltwahrnehmung auszudrücken. Callahan fotografierte fortan jeden Tag. „Photography was Harry`s way of greeting and making peace with the day”, so brachte es der Kurator John Szarkowski viele Jahre später auf den Punkt. Da war Callahan bereits ein Star, der mit Robert Frank um die Wände des Museum of Modern Art konkurrierte. Wie konnte es der Autodidakt Callahan so weit bringen?

Dirk Luckow, Intendant der Deichtorhallen in Hamburg, und die Kuratorin Sabine Schnakenberg beschäftigte genau diese Frage. Fast zeitgleich zum 100. Geburtstag des Detroiter Fotografen – Callahan wurde 1912 geboren und starb 1999 – ist nun eine Retrospektive im Haus der Photographie zu sehen. Der begleitende Ausstellungskatalog ist alles andere als eine Jubelschrift, sondern ein differenziert ausgearbeiteter Begleitband, der zahlreiche Essays und 198 Fotografien enthält.

„My project could only be to photograph as I felt and desired”, so beschreibt Callahan 1946 sein antiintellektuelles Konzept. Mehr noch: Er macht deutlich, nicht gesellschaftlich-prägend wirken zu wollen, denn der pädagogische Impetus sei ihm suspekt. Was interessiert ihn stattdessen? Callahan will die Wechselwirkung von Innen- und Außenwelt erforschen und sich dabei von rein subjektiven Empfindungen leiten lassen. Und die Fotografie? Ist das Medium seiner Wahl, um sich artikulieren zu können, denn eine Plaudertasche ist Harry beileibe nicht; Bilder statt Worte – das ist eher sein Ding. Also schnappt er sich seine Kamera und wendet sich dem zu, was ihn tagtäglich umgibt: Die Natur, die Stadt – und immer wieder Eleanor. In den frühen Jahren fotografiert er sie so häufig, dass man ihn für obsessiv halten kann.

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Besessen ist Callahan auch von der Idee, seine Leitmotive – Natur, Stadt, Eleanor – immer wieder zu fotografieren. Dabei sind die Fotos eines erstaunlicherweise nicht: repetitiv. Callahan verändert fortwährend seinen kreativen Standpunkt, wechselt Kameraformat, Material und Aufnahmetechnik. Ebenso unkonventionell ist Callahans fotografisches Selbstverständnis: Ein Bild, das ihm nicht während des Aufnahmeprozesses gelingt, kommt nicht in die Welt. Schließlich gehört er nicht zu diesen Fricklern, die in der Dunkelkammer ihre Fotos nachbearbeiten – das gilt im Übrigen auch für komplexe Mehrfachbelichtungen. Callahan, ein Einzelgänger eigentlich, orientiert sich in den Anfangsjahren an der Straight Photography, grob vereinfacht gesagt: der unmanipulierten Bildherstellung. Dann lernt er László Moholy-Nagy kennen, arbeitet von 1946 bis 1961 als Fotografiedozent an dessen Institute of Design in Chicago. Die Ästhetik des New Bauhaus beeinflusst nun seinen Stil: Immer häufiger tauchen exzentrische Kompositionen auf, bei denen er mit Mehrfachbelichtungen experimentiert.

Callahan fotografiert über sechs Jahrzehnte lang, variiert seine drei Grundthemen fortwährend und macht seine innere und fotografische Entwicklung so anhand weniger Motive sichtbar. Der Blick des jungen Harry auf die Welt? Ist analytisch und selektiv, er fotografiert liebend gern in Schwarz-Weiß und komponiert jedes Bild äußerst streng. Der Harry mittleren Alters, Vater einer Tochter jetzt, entdeckt neben der Farbfotografie auch das Reisen durch die Welt für sich. Die kühle Eleganz, die seine schwarz-weißen Serien dominiert, schwindet nun – alles wirkt wärmer, weicher. Und der Callahan im Seniorenalter? Ist am liebsten in großen amerikanischen Städten unterwegs und spielt raffiniert mit farbigem Diapositivmaterial, Mehrfachbelichtungen inklusive.

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Es ist ein beliebter journalistischer Reflex, Künstler nach ihrem Vorbild zu fragen, aber Harry Callahan, der großes Gewese um seine Person hasste und alles andere als extrovertiert war, beantwortete diese Frage stets bereitwillig: Walt Whitman. Der US-amerikanische Lyriker arbeitete beinahe 40 Jahre an seinem Gedichtzyklus „Leaves of Grass”, überarbeitete und erweiterte diesen fortwährend – mit unendlicher Geduld. Harry und Walt: Man kann sie sich getrost als Brüder im Geiste vorstellen.

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  • Titel: Harry Callahan
  • Untertitel: Retrospektive
  • Bildautor: Harry Callahan
  • Textautor: Dirk Luckow, Julian Cox, Peter MacGill, Sabine Schnakenberg
  • Herausgeber: Dirk Luckow, Sabine Schnakenberg
  • Gestalter: Kühle und Mozer
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg, Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 256
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 49,90 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-358-7

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