Dass Loretta Lux eine Ausbildung zur Malerin absolviert hat, ist bereits am silbern schimmernden Buchdeckel zu erkennen, der ihr Interesse für Farbe und Materialität offenbart. Von ihm herab schaut ein etwa vier- bis fünfjähriges Mädchen abwesend durch uns hindurch. Die Färbung seines altmodischen Pullovers ist genau abgestimmt auf das Himmelblau und auch die Nuancen der blonden Haare wiederholen sich in denen der Wolken. Alles ist mit geschultem Auge komponiert und scheint dennoch nicht zusammen zu passen. Das angeblitzte Gesicht des Mädchens wirkt künstlich vor der natürlich beleuchteten Landschaft. Es gehört nicht hierher und eröffnet auch dem Betrachter kein Näherkommen.
Das ist nicht gerade besonders einladend, wenn es darum geht, ein Buch zu öffnen. Ich wage es trotzdem und begegne im Innern gleich einem Mädchen in überholtem fleckigen Mantel und Faltenrock, das in angespannter Haltung abwartend vor einer Wand steht. Meine Sympathie wächst nicht gerade, also blättere ich um und treffe die Fotografin selbst. Wie ein Geschichtenerzähler, der seine Zuhörer zur Ruhe ermahnt, legt sie den Zeigefinger an die Lippen und blickt mich aus glasklaren Augen unnachgiebig an. Hinter ihr an der Wand befinden sich Kinderbuchillustrationen aus dem 19. Jahrhundert.
Spätestens jetzt habe ich das Konzept durchschaut: Hier folgt die eigentliche Geschichte.
Diese ist großzügig angelegt, jedem Bild ist eine gesamte rechte Seite gewidmet, die linke Seite bleibt frei. Einzige Ausnahme bildet die Arbeit Hidden Rooms I + II, die das rechte Bild auf der linken Seite als Spiegelung wiederholt. So werden die Assoziation zu Alice im Wunderland, die beim Durchblättern des Katalogs immer wieder auftauchen, auf formaler Ebene intensiviert.
Ein Portrait folgt dem anderen und jedes zeigt uns ein anderes merkwürdig entrücktes Kind in einer einsamen Welt. Zum Teil sind die Kinder mit Attributen ausgestattet, wie einem Laib Brot, einem abgeliebten Teddybären oder einem Fisch. Diese erscheinen wie die real gewordenen Illustrationen, die gerade noch das Selbstportrait der Künstlerin schmückten. So entsteht hier ein ganz eigener Kosmos, in den wir leider nicht eindringen können. Wir beschäftigen uns immer bloß mit den Oberflächen: den Strukturen und Mustern der Stoffe, der blassen Haut und den gläsernen Augen, und schließlich der glänzend gedruckten Oberfläche der Fotos auf der matten Buchseite.
Aber ist das nicht Fotografie? Oberfläche, Lichterscheinung? Von der Fotografie zu dokumentarischen Zwecken ist Loretta Lux weit entfernt. Nutzt sie doch die Möglichkeiten der technischen Postproduktion um diese entfremdeten Portraits in ihre unpassenden Umgebungen zu montieren. Der gesamte Herstellungsprozess, die Inszenierung und die Nachbearbeitung, sind der Malerei sehr nahe. Selbst die Künstlerin behauptet, es gehe ihr nicht um das Kind als Individuum, sondern um eine Metapher für die Unschuld und das verlorene Paradies. In dieses scheinen die Kinder sich sehnsuchtsvoll zurück zu wünschen, was jedes von ihnen zu anderen Reaktionen treibt: Sie trommeln unerbittlich penetrant auf einer kleinen Blechtrommel, blicken den Betrachter aus arglistigen Augen böse an oder ziehen sich zurück in ihre eigene Traumwelt.
Die perfekte Oberfläche täuscht nicht darüber hinweg, dass hier etwas nicht stimmt, am Ende vielleicht sogar der Aufstand dieser kleinen Persönchen geprobt wird. Aber nein, am Ende ist das Kind mit seinem Kopf schlafend auf den Tisch gesunken. Die Geschichte ist vorbei und ein kleiner Junge im gelben Wollpullover mit V-Ausschnitt blickt herablassend zu Boden, als wolle er sagen: „Siehst du, hab ich´s ja gleich gesagt!“
Ich schließe den Deckel und erblicke den Hinterkopf eines Mädchens mit zwei streng zusammengezurrten Dutts. Es schaut aus dem Fenster und ich folge seinem Blick hinaus auf eine norddeutsche Flachlandschaft mit schwarzbunten Kühen, die friedlich in der Ferne grasen. Hier ist die Welt noch in Ordnung, denke ich und bin gleichzeitig genervt von soviel romantischem Bezugsgeschehen. Zu kontrolliert, zu durchdacht und überlegt scheinen mir diese Fotografien. Die Inszenierung wirkt fast zwanghaft. Mit kühlem Blick wird beobachtet, was Kinder tun, wenn sie sich nicht mehr in ihrer gewohnten Umgebung befinden. Kein Wunder also, dass die Protagonisten sich offensichtlich nicht wohl fühlen in ihrer Haut. Und auch mich beschleicht Beunruhigung angesichts dieses fotografischen Blicks, dem ich folge, den ich zeitweise sogar übernehme. Bis ich mich besinne und fasziniert von diesem Spiel mit unseren Sehgewohnheiten, hin und her gerissen zwischen Ablehnung und Interesse, das Buch zurück ins Regal stelle.
- Titel: Loretta Lux
- Untertitel:
- Bildautor: Loretta Lux
- Textautor: Francine Prose
- Herausgeber:
- Gestalter: Francesca Richer
- Verlag: Hatje Cantz
- Verlagsort: Ostfildern
- Erscheinungsjahr: 2005
- Sprache: deutsch
- Format:
- Seitenzahl: 96
- Bindung: illustriertes Hardcover
- Preis: 35 Euro
- ISBN: 3-7757-1591-6