Eins und eins ist eins

Dietrich Oltmanns´ Doppelbilder

oltmanns-titel_

Der Mensch hat ein ziemlich grosses Gesichtsfeld. Richtig scharf und deutlich sieht er aber nur einen kleinen Ausschnitt (man sagt, eine Fläche wie sie eine analoge Kleinbildkamera mit ca. 43 mm Brennweite aufzeichnen würde), deshalb wandern unsere Blicke, ohne dass wir uns dessen bewusst machen, dauernd über das Sichtfeld. Hin und wider bleibt unser Blick an einem Ausschnitt hängen, den wir für wichtig erachten. Die Fotografin (oder der Fotograf) kommt in diesem Moment zu ihrem Bild, indem sie auf den Auslöser drückt. Beim Betrachten der so entstandenen Bilder stellt sich zuweilen heraus, dass das Ergebnis nichts „hat“. Vielleicht hätte ein Ausschnitt etwas weiter rechts oben den interessanteren Aspekt geliefert. Spätestens mit Erfindung der Motorkamera neigen Fotografen dazu, von einer Szene eine Vielzahl von Bildern aufzunehmen – eins wird schon brauchbar sein.

Dietrich Oltmanns gefiel das Ganze nicht. Er wollte Herr über die Auswahl der Teilaspekte seines Gesichtsfelds werden. Deshalb baute er eine analoge Halbformat-Kamera derart um, dass die Stege zwischen den Bildern wegfielen. Nacheinander aufgenommene Bilder lagen nun direkt beieinander und konnten so wie ein Negativ vergrössert werden. Draussen bei seiner Bildersuche konnte er fürderhin geplant und bewusst das gewünschte (Doppel-)Bild erzeugen. Manchmal liegen die Teilansichten direkt nebeneinander, manchmal entstammen sie dem schweifenden Blick des Fotografen. Die zwei Bilder, die nun eins geworden waren – wohlgemerkt bei der Aufnahme durch den Autor bewusst geplant – zeigten ‘mal zwei Aspekte derselben Ansicht, manchmal auch waren sie nur durch Stimmungen oder formale Verwandtschaften zu Einem geworden. Nein, Diptyche in konventionellen Sinn sind dies nicht, denn wir sehen ja keine zweiteiligen Bilder, sondern etwas Zusammengefügtes, etwas Neues. Es sind auch keine Serien (diese deuten sich nur sehr selten und vage an); Dietrich Oltmanns‘ Kreationen haben nichts Filmisches. Die Zusammenfügung ist ein kohärentes Statement.

oltmanns07_

Ich möchte annehmen, dass Dietrich Oltmanns trotz seines planvollen Vorgehens manchmal erstaunt das entstandene Gesamtbild betrachtet hat, entsprechend der Bemerkung von Gary Winogrand „ich fotografiere, um zu sehen, wie es fotografiert aussieht.“ Beachtenswert ist auch, dass Dietrich Oltmanns bei der Komposition seines Buches nicht nur an den Doppelbildern haften geblieben ist, sondern aus jeweils zweien davon beindruckende Doppelseiten geschaffen hat. Durch das einzelne Doppelbild mittlerweile geschult, erkennen wir nun weitere Korrespondenzen.

Wir können uns die 150 Bilder nacheinander ansehen, wir können aber auch hier- und dahin im Buch springen und verblüfft feststellen, wie aus zwei Ansichten tatsächlich ein Bild geworden ist und dies ein ganz neues Innenleben enfaltet, wie es der oben erwähnte Motorfotograf nie erreicht hätte (schon gar nicht der digitale Massen-Knipser). Wir können auch nachsinnen, was Dietrich Oltmanns wohl bewogen hat, gerade diese beiden Ansichten zu einem Bild zu vereinigen. Und irgendwann gucken wir auch noch in die Bilder hinein, entdecken Einzelheiten, fragen uns, welche Vögel wohl in den verranzten Nistkästen wohnen wollen.

oltmanns08_

Die Fotografien wurden alle in Berlin aufgenommen, es handelt sich also um ein Berlinbuch, jedoch der durchaus besonderen Art. Für den Touristen ergibt sich gemeinhin das Bild einer Stadt aus schönen Panoramen und beeindruckenden Gebäuden. Anders hier: alle Bilder zeigen Teilaspekte unseres Alltags-Erlebens. Dinge die uns buchstäblich zu Füssen liegen, gar arg im Wege sind. Sonderlich ordentlich geht es in dieser Stadt nicht zu, Vieles liegt rum; ist die BSR nur in den feinen Bezirken mit Aufräumen beschäftigt? Sind in jenen Schuppen noch Autos untergebracht? Wann wird ein neuer Besitzer die uralten Schuh-Abstreifer an jener Eingangstür wohl entfernen? Ein Schild hängt seit Ewigkeiten nur noch an einer Schraube. Man sollte sich endlich mal kundig machen, ob diese Röhren noch in Betrieb sind, und was sie eigentlich befördern. Na, und wie sieht denn das hier aus?!

Die ständigen und vielfältigen Bildeindrücke, die auf uns eindringen, sind wir gewohnt, einfach vorbeirauschen zu lassen. Dietrich Oltmanns hat erreicht, Einiges davon zu bändigen und in eine Form zu bringen, und er hat einen Beitrag zur Wahrnehmung der Welt geliefert.

oltmanns05_

  • Titel: Nacheinander – Unterwegs in Berlin 1995-2020
  • Untertitel: One After the Other – On the Way in Berlin 1995-2020
  • Bildautor: Dietrich Oltmanns
  • Textautor: Dietrich Oltmanns
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Dietrich Oltmanns, Andreas Koch
  • Verlag: Permanent Verlag
  • Verlagsort: Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 22 x 16 cm
  • Seitenzahl: 160 (unpaginiert)
  • Bindung: Schweizer Broschur
  • Preis: 22 Euro
  • ISBN: 978-3-910541-04-7

Kommentarfunktion geschlossen.