Fotografische Shortstories

Paul Grahams neues Buch ist ein Meisterwerk. Es ist sowohl ein Geschenk an die Leser als auch eine Huldigung an die Gegenwart – beide Übersetzungen des Titels wären möglich. Für die Idee des Buches ist freilich der zweite Wortsinn wichtiger: Graham fotografierte Straßenszenen in einer amerikanischen Großstadt mit einem geringen zeitlichen Abstand und kombinierte je zwei (oder drei) Aufnahmen. Dass die Motive in New York gefunden wurden, weiß man nur, wenn man die Verlagswerbung liest.

Der Hintergrund bleibt bei den zwei oder drei Fotos jeder Miniserie erkennbar der gleiche. Die Passanten freilich agieren in unterschiedlicher Weise oder eine Hauptperson verharrt, während das Umfeld sich verändert hat. Ob die Personen eine jeweils andere Position auf Grahams Bühne einnehmen, ob sie den Blick gewendet haben, sie in ihrer Pose wie festgefroren erscheinen oder ganz aus dem Bildfeld verschwunden sind hat der Regisseur so festgelegt und dramatisiert, dass zwischen den Bildern eine Geschichte möglich wäre. Etwas könnte passiert sein, ein Unfall, ein Verbrechen oder nur ein alltägliches Ereignis wie das fahrplanmäßige Abfahren des Schulbusses oder das Wechseln der Ampel von rot auf grün. Der berühmte entscheidende Augenblick wird gedehnt und relativiert. The Present enthält eine Sammlung von wortlosen Kurzgeschichten über das Vergehen der Zeit.

Die Bildsequenzen sind im Buch entweder direkt neben- oder übereinander gestellt oder man muss eine Ausklapptafel öffnen oder umblättern. Das erhöht die Spannung, was als Nächstes kommen mag. Nach American Night (2003) und Shimmer of Possibility (2007 bzw. 2009) ist das die dritte Arbeit Grahams zu den USA, die sich mit den Möglichkeiten der Fotografie und des Fotobuchs beschäftigen. Zudem wird in den Bildessays ein kritisches Interesse Grahams an diesem Land sichtbar und an dem, was vom American Dream noch übrig ist. The Present ist also nicht nur wegen seines goldfarbigen Seideneinbands und der noblen Druckqualität für alle ein Geschenk, die von Fotobüchern mehr erwarten als eine Sammlung gedruckter Bilder. Aber das war bei Graham noch nie anders und man darf sich freuen, dass der Fotograf seinen eigenen hohen Ansprüchen einmal mehr gerecht geworden ist.