Das Buch ist neu, die Methode ist bereits aus einer erfolgreichen Ausstellung in der Berlinischen Galerie nebst Katalog (2008) und einem weiteren Buch bekannt: aus alten Architekturfotos entsteht mit Hilfe von Computertechnik ein neues Bild.
Die Ostberliner Fruchtstraße (seit 1972 Straße der Pariser Kommune) zwischen Ostbahnhof und Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) hatte im Zweiten Weltkrieg schwer zu leiden gehabt. 1952, 20 Jahre vor dem Abriss, schickte man Fritz Tiedemann, der die Häuser auf der einen Straßenseite fotografisch zu dokumentieren hatte. Ein Mann oder eine Frau mit Maßstab bildete nicht nur eine wiederkehrende, bei genauer Betrachtung irritierende Konstante, sondern erleichterte dem Fotografen Arwed Messmer das maßstabgemäß korrekte Zusammenfügen einzelner, meist nur ein Gebäude zeigenden Aufnahmen zu Panoramen mit langen Abschnitten der Bebauung. Panoramen mit ihrem weiten Bildwinkel und dem schmalen horizontalen Format haben eine lange Tradition als optische Sensation. Sie wurden auch gezielt in der Bildpropaganda zum „Nationalen Aufbauprogramm 1952“ mit dem nur einen Steinwurf von der Fruchtstraße entfernten Renommierobjekt Stalinallee eingesetzt. Messmer bediente sich bewusst dieser Präsentationsform, um den geschundenen Ruinen und Altbauten ihren Zusammenhalt zurückzugeben. Die Arbeitsweise für die Herstellung der digitalen Neuinterpretationen und Montagen der von Messmer entdeckten Fotos von Tiedemann wird offen gelegt bis hin zu den Reproduktionen einzelner Karteikarten mit Originalabzügen von 1952.
Am Anfang und am Ende des Buches steht je ein Filmstill aus einem legendären DDR-Film, der einen Altbau aus dem Bereich der Fruchtstraße bei der Sprengung zeigt. Das Buch wurde auf zwei verschiedene Papiersorten gedruckt: ein dünnes Werkdruckpapier für die Texte und einige Farbfotos von Messmer, die das Areal im heutigen Zustand vergegenwärtigen, und dickes Kunstdruckpapier für die rekonstruierten Architekturaufnahmen und Panoramen von 1952 als Kern des Ganzen. Sechs Klapptafeln waren nötig, um den Fassadenabwicklungen Raum zu geben. Zwei weitere sind Arbeitsbilder zu den Beiträgen der beiden Hauptautoren, u.a. eine Installationsansicht des Fruchtstraßenpanoramas 2009 in der Berliner Ausstellung.
Annett Gröschner wertete für ihren den Häusern sogar in der Leserichtung folgenden Text „Heute rote Rüben“ Bücher, Filme, Archivunterlagen und Adressbücher aus, um eine Geschichte über die Straße und über das Leben hinter den löcherigen Fassaden erzählen zu können. Auch ihre Arbeitsweise ist Thema eines Panoramas, das als Materialcollage mit Fotokopien, Merkzetteln und Einzelbildern für das Buch allerdings verzichtbar ist. Das Konzept des Buches wird auch so klar. Die Arbeitsweise beider Autoren mag in ihrem Umgang mit dem Material, in ihrer dokumentarischen Montagetechnik wegweisend und zeitgemäß* sein, aber wenn man zu viel hinter die Kulissen schauen darf und fast alles erklärt wird, schiebt sich die Frage des „Making of“ vor die Bilder, die mit ihrer unglaublichen Detailfülle eine Einladung zum genauen Hinsehen sind. Man lernt aus den Tiedemann/Messmerschen Bildern vor dem Hintergrund von Gröschners Text viel über die Gründerzeit, über die Schrecken des 2.Weltkriegs und über den schwierigen Wiederaufbau. Das ist die eigentliche Leistung des Buches.
* Erinnert sei an die damals ohne Digitaltechnik realisierte Arbeit „Bölschestraße, Berlin-Friedrichshagen“ von Karl-Ludwig Lange in: Bauwelt, 82.Jg./Nr.42/43, 15.11.1991.
- Titel: Berlin, Fruchtstraße am 27. März 1952 / on March 27, 1952
- Untertitel:
- Bildautor: Fritz Tiedemann, Arwed Messmer
- Textautor: Florian Ebner, Uwe W. Tiedemann, Annett Gröschner
- Herausgeber: Annett Gröschner, Arwed Messmer
- Gestalter: Carsten Eisfeld
- Verlag: Hatje Cantz
- Verlagsort: Ostfildern
- Erscheinungsjahr: 2012
- Sprache: deutsch, englisch
- Format:
- Seitenzahl: 142
- Bindung: Hardcover mit illustrierter Banderole
- Preis: 38 Euro
- ISBN: 978-3-7757-3472-1
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