Die Engländer haben ihre „seaside resorts“, wie Southend, Brighton oder eben Blackpool, die kaum an Biarritz oder St.Tropez gemahnen, sondern eher Tummelplätze für die untere Mittelklasse und die Arbeiterklasse sind. Im Meer badet keiner, die Irische See ist ziemlich kalt. Die Spielhallen sind allerdings auch nicht gemütlicher. Heute tobt sich hier insbesondere die Jugend aus, etwa bei Abschiedsfeiern vom Junggesellinendasein. Dorthin, nach Nord-England hat sich die russisch-amerikanisch-berliner Fotografin begeben.
Benita Suchodrev wirft sich quasi ins Gedränge und fotografiert darauf los. Da bleibt meistens keine Zeit für bedächtige Komposition, aber sie hat ein untrügliches Gespür für die Zuspitzung einer Situation. Ihre Version des „decisive moment“ lässt nur entfernt an Henri Cartier-Bresson denken, ihr Bildklang ist rauer, und sie ist näher dran. Dabei kommen ihr durchaus lyrische Bilder in den Blick, Möwen im Formationsflug, am Ende des Buches ein einsamer High-heel-Schuh auf der Strasse. Nie jedoch ist Suchodrev denunzierend, es scheint, als hätte sie sich dazu gehörig gefühlt, nie abgehoben. Sie ist in dem Spiel ganz dabei, und das gibt ihren Bildern etwas Leichtes trotz harter Kontraste. Sie verwendet ein starkes Weitwinkelobjektiv, so dass selbst bei grosser Nähe zu den Protagonisten stets viel Umfeld gezeigt wird, nämlich das grausige Blackpool. Der Betrachter weiss stets, wo er ist. Nach dem ersten atemlosen Durchgang durchs Buch nehme man sich Zeit für bedächtigere Betrachtung: der Detailreichtum der Bilder ist beachtlich. Benita Suchodrev ist nicht etwa Martin Parr in Schwarzweiss, denn jener ist weitaus kalkulierter in seinen teils brutalen Anmerkungen zur britischen Wesensart. Zur fotografischen Genealogie und zur Erläuterung der Bildsprache möchte ich eher auf Bruce Gilden, William Klein oder Eugene Richards, sogar auf Herlinde Koelbl verweisen, auch das in Vergessenheit geratene, großartige Neapel-Buch von Wilfried Bauer kommt mir in den Sinn.
Bilder, die mit einem Weitwinkelobjektiv gemacht wurden, können am besten gelesen werden, indem man nahe an sie herangeht (ja, machen Sie das mal, die Nase 10 cm vom Buch entfernt) – dann ist man „drin“. Weiter ist da Suchodrevs Entscheidung für hartes Schwarzweiss. Diese Abstraktion schliesst jede Idylle oder Parr‘schen Zynismus aus. Der Verzicht auf Farbe zeigt die Brutalität der Reklame-Kakophonie umso deutlicher. Dieser furiose Trip ist natürlich keine soziologische Langzeit-Studie. Aber die Unmittelbarkeit der Autorin zeigt Wirkung. Wir sehen Margaret Thatcher‘s Kinder: eine ziemlich herunter gekommene Gesellschaft. Die Freuden werden von Plunder, von Candy und Fish & Chips bestimmt.
Die heutzutage reflexartig gestellte Frage „hat sie die Leute denn um Erlaubnis gefragt?“ ist mit „nee, natürlich nicht!“ zu beantworten, denn wie sollte das denn gehen?! Hätte Cartier-Bresson in Mexico oder Walker Evans in Havanna gross gefragt, gäbe es deren bravouröse Reportagen nicht. Benita Suchodrev stellt ihren „Kratzer an der Oberfläche einer Stadt“ (wie sie es sagt) dazu. So wie ich England kenne, würden sich die Abgebildeten schlicht über die Bilder freuen und wahrscheinlich freche selbstironische Bemerkungen treffen – very British.
- Titel: 48 Hours Blackpool
- Untertitel:
- Bildautor: Benita Suchodrev
- Textautor: Matthias Harder, Benita Suchodrev
- Herausgeber:
- Gestalter: Benita Suchodrev und Kehrer Design
- Verlag: Kehrer
- Verlagsort: Heidelber/Berlin
- Erscheinungsjahr: 2018
- Sprache: deutsch, englisch
- Format: 24,3 x 30,3 cm
- Seitenzahl: 160
- Bindung: Illustriertes Hardcover
- Preis: 39,90 Euro
- ISBN: 978-3-86828-870-4