Welt im Umbruch

Jessica Backhaus fotografiert das ländliche Polen

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Nicht nur der Umschlag, auch der Titel macht deutlich, dass Jessica Backhaus’ „Jesus and the Cherries“ kein Buch im Sinne der Dokumentarfotografie sein will, sondern ein (buch-) und fotokünstlerisches Gesamtprojekt.

Der Titel verweist auf zentrale Motive polnischen Landlebens, wie es die Fotografin in dem westpommerschen Dorf Netno vorgefunden hat. Backhaus hat hier nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in dem Gutshaus ihrer Eltern seit 1993 mehrere Sommer verbracht und schließlich zwischen 2001 und 2004 mit der Kamera eine kleine Welt im Umbruch festgehalten. Die Gläser mit eingemachten Kirschen – auf die der Titel verweist – versteht sie als Symbol der Tradition in einer Zeit, wo man Kirschen ja auch im Supermarkt kaufen kann. Der allgegenwärtige Jesus an der Wohnzimmerwand oder das Bild von Papst Karol Woytila bezeugen wiederum die tiefe Religiosität der Bevölkerung. Der Umschlag des Bandes ist eine rosa-weiße Spitzenapplikation, eine Reminiszenz auf die allgegenwärtigen Deckchen in der „guten Stube“. Aber ach! Dieses Umschlag-Spitzendeckchen ist aus Plastik, ein industriell gefertigtes Billigprodukt, das vorgibt, Handarbeit zu sein, ein Surrogat also, das dem Auge schmeichelt, aber die Nase quält, denn es stinkt nach PVC. Neue Zeit! Fortschritt!

Backhaus’ berührende Fotoserie zeigt ein provinzielles, ländliches Polen zwischen gestern und morgen, zwischen Tradition und Aufbruch. Es sind Stilleben im Wortsinn. Die Zeit scheint eingefroren. Intime, aber niemals aufdringliche Einzelporträts von Bewohnern – Männern, Frauen, Jugendlichen – korrespondieren mit Bildern von Sofaecken mit exakt eingekeilten Kissen unter Geweihen, Kruzifixen und Kitschlandschaften, Esszimmern mit Kuchen und Schnittblumen auf dem Tisch, Jugendzimmern mit Postern an den Wänden und Schlafräumen mit unter dicken Häkeldecken versteckten Betten.

Mit „Schöner Wohnen“ hat das alles nichts zu tun. Die Interieurs sind nicht schön im Sinne westlicher Wohnkultur. Sie sind aber auch nicht hässlich, sie sind vielmehr sehr einfach, sehr sauber, sehr ordentlich, sehr bescheiden und im Grunde sehr belanglos. Am wenigsten würden die Bewohner das alles beachten. Erst der künstlerisch (an-)ordnende Blick durch die Kamera, die besondere, differenzierende Wahrnehmung der Fotografin, ihr ausgeprägter Sinn für Formen, Farben, Licht und Komposition, ja der strenge Formalismus und nicht zuletzt die geschickte Anordnung verleihen diesen Bildern kleinbürgerlich-idyllischer Refugien die künstlerische Aura.

  • Titel: Jesus and the Cherries
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Jessica Backhaus
  • Textautor: Monika Rydiger, Stephan Schmidt-Wulffen
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: 
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg
  • Erscheinungsjahr: 2006
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 140
  • Bindung: Hardcover, Bauchbinde
  • Preis: 58 Euro
  • ISBN: 393663663X

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