Zürich ist (fast) überall

Andrea Helbling fotografiert die unspektakulären Seiten ihrer Stadt

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Die „Vertreter der Gattung Haus“ – so der Titel von Andrea Helblings nüchterner fotografischer Bestandsaufnahme von Gebäuden und Straßenzügen in Zürich – nehmen wir entweder gar nicht mehr wahr oder sie stoßen uns gleich vor den Kopf. Das passiert nicht nur in Zürich, sondern auch in Kassel, Hamburg, Berlin oder Magdeburg.

Es geht hier nicht um historistische Straßenzüge, Schlösser und Palais, Rathäuser, barocke Opern oder Kirchen, die üblicherweise das touristisch vermarktbare, also „wertvolle“ Antlitz einer Stadt bilden. Helbling interessiert, was die Leute vom Stadtmarketing ausblenden, was sich an den Rändern befindet, worauf vielleicht schon die Abrissbirne wartet, was nun einmal da ist, irgendwie dazugehört und woran man sich als Einwohner gewöhnt hat: Schlichte funktionale Wohnhäuser der 50er-, 60er- und 70er-Jahre, Lagerhäuser, Einkaufsmeilen, Hinterhöfe, Wohntürme – mal einzeln mal als Ansammlung im Sinne eines städtebaulichen Konglomerats. Seit den 1990er-Jahren streift Helbling (Jg. 1966), die vergangenes Jahr mit dem Swiss Photo Award in der Kategorie Architektur ausgezeichnet wurde, durch Zürich, nimmt auf und dokumentiert all das, was sich eigentlich irgendwie unsichtbar machen will, weil es nicht als „schön“ gilt. Die ebenfalls aus der Schweiz stammende Publizistin Beatrice von Matt bringt das in ihrem Essay schön poetisch auf den Punkt: „Die Fotografin Andrea Helbling macht uns zu Flaneuren in den Straßen der Gewöhnlichkeit.“

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„Das Gesicht der Stadt, bar jeder Exotik“ steht auf dem Klappentext. Das ist natürlich Quatsch, weil eine Stadt wie Zürich für Züricher oder Mitteleuropäer per se nicht „exotisch“ also „fremd“, „andersartig“, geschweige denn im positiven Sinne architektonisch „aufregend“ ist. Gemeint ist wahrscheinlich, dass Helblings Motive schlicht und unspektakulär sind. Nüchtern und sachlich ist ihre Herangehensweise. Nichts wird im Vorübergehen mal rasch abgelichtet, für jedes Motiv nimmt sie sich viel Zeit. Die Gebäude erscheinen bei ihr weniger als „anonyme Skulpturen“ im Sinne Bernd und Hilla Bechers, sondern sind eingebettet in das urbane Umfeld. Das geschieht mal mehr mal weniger, aber immer so, dass städtebauliche Zusammenhänge sichtbar werden.

So verstehe ich Helblings Buch vor allem als ein Plädoyer dafür, mit offenen Augen nicht nur durch Zürich, sondern durch jede Stadt zu laufen und diese wahrzunehmen.

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  • Titel: Vertreter der Gattung Haus. Zürich 1996-2016.
  • Untertitel: Aus der Serie Häuser und Konglomerate
  • Bildautor: Andrea Helbling
  • Textautor: André Bideau, Beatrice von Matt, Nadine Olonetzky
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Bonbon – Valeria Bonin, Diego Bontognali, Mirko Leuenberger
  • Verlag: Scheidegger & Spiess
  • Verlagsort: Zürich
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: deutsch
  • Format: 23,8 x 32,7 cm
  • Seitenzahl: 192
  • Bindung: Hardcover mit Leinenrücken, illustrierter Schutzumschlag
  • Preis: 68 Euro
  • ISBN: 9783858815163

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