Wer nie die DDR, resp. Berlin, besucht hatte, für den konnten die ersten Jahre nach der Wende von 1989 eine Zeitreise sein. Es roch nach Zweitaktern und Braunkohle. Die vorherrschende Farbe war grau. Straßenzüge waren heruntergekommen, Fassaden hatten Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg, Restaurants hießen „Zum Goldbroiler“, Kinos „Metropol“, es gab Hinweisschilder, auf denen „Kombinat“ oder „VEB“ draufstand. Autowracks an Bordsteinen, es gab überhaupt wenig Straßenverkehr. Allerdings erwachte auch neues Leben, Kneipen entstanden in Kellern, neue Geschäfte eröffneten, alte Läden führten neue Waren, machten Ausverkauf oder schlossen.
Schon damals war klar, dass nichts so bleiben würde. Und wer das nicht fotografierte, darf sich heute ärgern. Für jene mag das Buch von Andreas Muhs ein kleiner Trost sein. Der gebürtige Hamburger kam kurz nach der Wende an die Spree und blieb dort, um die Veränderung der Stadt aus der Sicht des „Westlers“ mit sicherem Gespür für die Exotik des Verfalls zu dokumentieren. „Berlin – die Frühen Neunziger“ ist wie ein Schwarz-Weiß-Film ohne Worte gestaltet, von den kleinen Bildunterschriften einmal abgesehen: Formatfüllende Doppel- und Einzelseiten wechseln mit umrandeten zentrierten Bildern. Muhs hat jenen fantastischen Schwebezustand zwischen Abgesang und Aufbruch in unspektakulären, aber eindrucksvollen Bildern festgehalten. Vielleicht hätte man solche Fotos selber gemacht, wenn man vor lauter Staunen nicht das Fotografieren vergessen hätte…
P.S.: Andreas Muhs betreibt heute das „Berlin Bildarchiv + Architekturfotografie“, das auf nahezu 17.000 Bilder angewachsen ist, siehe www.muhs.de.
- Titel: Berlin
- Untertitel: Die Frühen Neunziger. Fotografien 1989-1995 - The Early Nineties. Photographs 1989-1995
- Bildautor: Andreas Muhs
- Textautor: Christian Welzbacher
- Herausgeber:
- Gestalter: Mathias Bertram
- Verlag: Lehmstedt
- Verlagsort: Leipzig
- Erscheinungsjahr: 2011
- Sprache: deutsch, englisch
- Format:
- Seitenzahl: 144
- Bindung: Hardcover mit Schutzumschlag
- Preis: 19,90 Euro
- ISBN: 978-3-937146-96-6