1929 warb man in Berlin mit dem Slogan „Das neue künstlerische Portrait“ für die Bilder aus den neuen Photomaton-Studios. Dagegen vertrat Hanns Günther, damals bekannter Autor populärwissenschaftlicher Bücher, 1933 folgende Auffassung: „Die selbsttätigen Photographiermaschinen […] sind natürlich nicht imstande, die Arbeit der Kunstphotographen zu ersetzen, denn dort, wo die Persönlichkeit den Ausschlag gibt, ist das Reich der Maschine zu Ende“. Zwei einander widersprechende Aussagen, welche ist richtig? Wenn man die automatisierten Selbstporträts in dem von Günter Karl Bose herausgegebenen Band „Photomaton“ nach Jahrzehnten auf sich einwirken lässt, ist man geneigt – der Werbung zu glauben.
500 Automatenbilder aus einer schon fernen Zeit. 500 Bilder, ungezählte Persönlichkeiten, alle sind anders: Kokette Flirts mit dem Kameraauge an der Photomaton-Wand, gelöstes Grinsen, angespanntes Lächeln, verklemmte Blicke ‑ von seriös über ernst und heiter bis frivol, schüchtern und ängstlich. Dazu die schöne Mode der Epoche: Bubiköpfe, lustige Hüte, elegante Abendkleider, behandschuhte Damenhände, Herren mit Hitlerbärtchen, streng gescheitelte Pimpfe in HJ-Uniform, kleine Kinder, manche mit Stofftieren, die verschüchtert zur Seite blicken. „Photomaton“ ist eine faszinierende Reise in die Vergangenheit anhand von Gesichtern der zwanziger bis vierziger Jahre. Jedes scheint eine Geschichte zu erzählen. Von welcher Feier scheint diese beschwingte Dame gerade zu kommen? Was hat dieser friedliche Soldat – vielleicht auf Fronturlaub – schon alles erlebt, erlitten? Wurden dieses Kind, jene Seniorin vielleicht später deportiert? Haben die hier Versammelten überhaupt den Krieg überlebt? Namenlose Schicksale, viele Fragen, keine Antworten, das macht die Sache nur noch anregender.
Ob Kunst oder Nichtkunst – das ist letztlich irrelevant, auch wenn diese Frage bejaht werden kann. Ihrer eigentlichen Zweckbestimmung enthoben werden diese Fotos schon Kunst durch dieses Buch. Zudem wurden viele dieser Passbilder nahezu auf Seitenformat vergrößert, was ihnen einen völlig anderen Charakter verleiht. In seinem einleitenden Essay umreißt Bose die Geschichte des Fotoautomaten, stellt Bezüge zur zeitgenössischen Diskussion her, natürlich zu Sanders „Antlitz der Zeit“, zu Lendvai-Diercksens „Das deutsche Volksgesicht“ oder Retzlaffs „Bildnisse deutscher Menschen“. Ein Anhang mit Literaturangaben, Quellentexten zur Geschichte des Fotoautomaten sowie weiteres Bildmaterial runden das hervorragend gestaltete, sorgfältig typografierte und auf bestem Papier gedruckte Buch ab.
- Titel: Photomaton
- Untertitel: Frauen, Männer, Kinder. 500 Automatenbilder
- Bildautor:
- Textautor: Günter Karl Bose
- Herausgeber:
- Gestalter: Günter Karl Bose, Katharina Triebe
- Verlag: Institut für Buchkunst
- Verlagsort: Leipzig
- Erscheinungsjahr: 2011
- Sprache: deutsch
- Format:
- Seitenzahl: 208
- Bindung: illustriertes Hardcover
- Preis: 35 Euro
- ISBN: 978-3-932865-63-3
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