Der kaukasische Kreidekreis – reloaded

Davide Monteleone inszeniert ein leises Drama – und will uns das Krisengebiet Nordkaukasus näherbringen

Monteleone_Cover

Ziemlich wahrscheinlich, dass es Davide Monteleone während seiner Laufbahn als Fotojournalist in den Nordkaukasus verschlagen hat. Sehr wahrscheinlich auch, dass er mit den Fotos über die Republiken im Süden Russlands erfolgreich war. Denn motivierter und hartnäckiger kann sich ein Bildreporter einem Thema kaum verschreiben. Sicher, für Monteleone ist Russland längst keine Leerstelle mehr, als er sich 2003 entschließt, von Moskau nach Grosny zu ziehen. Seit geraumer Zeit berichtet er als Korrespondent der Fotoagentur Contrasto aus Russland. Doch die Auftragsarbeiten genügen ihm nicht mehr, er möchte auch an einem freien Projekt feilen. Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, ist als neuer Lebensmittelpunkt nahezu perfekt; von hier aus sind die Reisen in die benachbarten Republiken des Nordkaukasus relativ einfach möglich. Mehrere Jahre pendelt Monteleone hin und her, macht ununterbrochen Fotos, bis ihn die Herausforderung lockt, daraus eine Erzählung zu formen.

Was also liegt näher, als ein Buch zu machen? Ganz allein traut sich der 38-jährige Fotograf dieses Vorhaben jedoch nicht zu. Er holt sich die Journalistin Lucia Sgueglia an die Seite; sie reist mit ihm unter anderem nach Abchasien, Dagestan, Südossetien sowie Tschetschenien und führt Gespräche mit den Menschen vor Ort. Die Rote Distel ist das Ergebnis der Kooperation. Das Buch wurde im Vorfeld bereits mit dem European Publishers Award for Photography ausgezeichnet – und man könnte davon ausgehen, dass es eine Erzählung enthält, der man mit Neugier folgt. Aber das ist nicht mehr als ein Versprechen.

Das Problem des Buchs zeigt sich bereits nach den ersten Seiten: Monteleone hat sich schlichtweg verhoben; es fehlt ihm die Idee, wie man ein derart komplexes politisches Thema in Buchform bannen kann. Es gibt im Nordkaukasus starke Sezessionsbewegungen, und Wladimir Putin hat während seiner letzten Amtszeit als Präsident alles dafür getan, um die Länder im russischen Staatsverband zu halten. Wir kennen beispielsweise die Bilder der Tschetschenien-Kriege. Aber wir wissen so gut wie nichts über die Historie und die gegenwärtige Lage der Republiken und können nicht einmal erahnen, zu welcher Herrschaftsform der Unabhängigkeitskampf führen wird. Das Buch liefert hierzu fast keine Informationen. Mühsam muss man sich aus den hinteren, über drei Seiten laufenden, klein gedruckten Anmerkungen ein Bild zusammenpuzzeln. Fast wünscht man sich die kenntnisreichen Kommentare eines Peter Scholl-Latour herbei. Und die Frage drängt sich auf: An wen richtet sich das Buch eigentlich, was will es sein? Ein Werk für Experten, für Eingeweihte?

Schon klar, mit seinem Fotobuch will sich Monteleone bewusst vom journalistischen Metier lösen, es soll mehr sein, als die platte Abbildung des Faktischen. Auch deshalb finden die literarischen Texte von Lucia Sgueglia ihren Raum. Es sind stark verdichtete Erzählungen, sie schildern, mehr oder minder berührend, von Augenblicken, die sich prägnant in das Gedächtnis der Interviewten eingebrannt haben. Aber trotzdem hinterlässt das Buch kaum mehr als ein düsteres Raunen. Es geht um Tristesse, Rückständigkeit, Gewalt, archaische Gesellschaftsstrukturen, islamisch-fundamentalistische Strömungen – und nichts deutet daraufhin, dass im Nordkaukasus auch nur annähernd demokratische Verhältnisse entstehen werden. Die interessantesten Fotos des Buchs sind nicht von ungefähr die Frauenporträts, die Monteleone so zahlreich zeigt. Die Frauen scheinen die wahren Verlierer zu sein, für sie führt kein Weg in die Freiheit, die Emanzipation hinein. Und man meint, das ablesen zu können: an den traurigen, resignierten Gesichtszügen.

Davide Monteleone hat mit seinem Buch viel gewollt und wenig erreicht. Das überrascht, wenn man sich vor Augen führt, wie viel Zeit und Energie er diesem Projekt gewidmet hat. Doch Rote Distel zeigt augenfällig: Der erfahrene Journalist findet die erzählerischen und dramaturgischen Mittel nicht, um das Wichtigste zu wecken: ehrliches Interesse.

 

  • Titel: Rote Distel
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Davide Monteleone
  • Textautor: Lucia Sgueglia, Renata Ferri, Davide Monteleone
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: David Barel
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg, Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2012
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 128
  • Bindung: Hardcover (Kunstleder)
  • Preis: 35 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-294-8

Kommentarfunktion geschlossen.