Gemeinheit

Ein dünnes dickes Buch von Miguel Rio Branco

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Der Brasilianer Miguel Rio Branco (Jg. 1946) ist Mitglied der Agentur Magnum und gehört damit zur Crème de la Crème der globalen Fotografenzunft. Sein Opus Maldicidade erschien bereits 2014 in einer ersten, knapperen Fassung in Sao Paulo. Die neue internationale Ausgabe ist mit 464 Seiten recht umfangreich, aber durch die Verwendung von Dünndruckpapier gar nicht dick. Die massive Pappe des Einbands steht in einem seltsamen Kontrast zu dem wabbeligen Buchblock. Der Schutzumschlag in Hochglanzoptik und kupferfarbiger Titelschrift spielt mit der Optik eines netten Coffee-Table-Books. Darauf zu sehen eine ältere Dame mit viel Gold im Mund und um den Hals. Sie lächelt den Betrachter an, fixiert ihn und wirkt trotzdem nicht eben glücklich. Das in vier Sprachen abgedruckte Vorwort stammt schon von 2006, kann also nicht für das vorliegende Buch entstanden sein, auch wenn der Duktus der Sprache dem der Fotos nahe kommt. Schlusssatz „… denn wir fotografieren aus der Not heraus“. Der Titel Maldicidade lässt sich laut Internet-Translator je nach dem, ob man Portugiesisch oder Spanisch eingestellt hat, mit „Gemeinheit“ oder „Fluch“ übersetzen.

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Das erste Bild zeigt, in Schwarzweiß, eine Holztür, in deren Fensteröffnungen sich die vorbeiführende Straße spiegelt. Das zweite Bild offenbart dann die Tür im Ganzen, ein Mann mit Hut und einem Sack über der Schulter tritt soeben ein. Es folgen zwei Kinder, die durch ein Loch in einer Bretterwand spähen, dann, nun in Farbe, ein Stillleben aus gut gefüllten Kuchenblechen, präsentiert auf der Motorhaube einer Schrottkarre. Dann eine verbeulte weitere Motorhaube eines Straßenkreuzers mit einem darauf wie tot liegenden Mann, dann eine liegende Person, die sich an den Kopf fasst wie in Munchs berühmtem Gemälde, dann das Bilddokument eines Autounfalls, Einschusslöcher, weitere Autos, von links ein Fahrrad, dann ein ausgeweidetes Fahrradgerippe, ein (Saurier-?)Skelett und so weiter und so fort.

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Man kann in dem Buch blättern und dabei schnell die Lust daran verlieren, denn erschließen tut es sich erst, indem man der Sequenzierung Seite für Seite folgt. Nur so ergebem sich formale oder inhaltliche Verwandtschaften, die den Leser im Labyrinth der von Rio Branco fotografierten Städte bei der Stange halten. Am Ende rollt ein beinloser Alter auf einem grotesken Stühlchen über den Gehweg und das Schlussbild zeigt wieder die beiden Kinder vom Anfang: Der Junge schaut noch immer durch das Loch im Zaun, das Mädchen blickt nun auf ihren kleinen Begleiter als ob sie ihm sagen wollte: „komm, lass es gut sein“. Diese Pointe erinnert an das berühmte Schlussbild von W. Eugene Smith im Katalog der Ausstellung The Family of Man (1955), in dem zwei Kinder Hand in Hand hoffnungsvoll einer sonnigen Zukunft entgegen zu gehen scheinen. Miguel Rio Branco verbreitet keinen Optimismus. Die Welt hinter dem Bretterzaun erscheint in seinem Buch als düster, blutig, schmuddelig, verkommen und gemein.

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  • Titel: Maldicidade
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Miguel Rio Branco
  • Textautor: Paulo Herkenhoff
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Miguel Rio Branco
  • Verlag: Taschen
  • Verlagsort: Köln
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch, Englisch, Französisch, Portugiesisch
  • Format: 33,6 x 25,2 cm
  • Seitenzahl: nicht paginiert (464 S.)
  • Bindung: Hardcover, illustrierter Schutzumschlag
  • Preis: 60 Euro
  • ISBN: 978-3-8365-7233-0

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