Geschichte in Leerstellen

Berliner Erinnerungslandschaften von Andreas Gehrke und Martin Mühlhoff / Christian Vossiek

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Mit der Fotografie kann man die Zeit nicht zurückdrehen, aber sichtbar machen. Die deutsche Geschichte hatte zwischen 1933 und 1945 ihre dunkelste Phase, die immer wieder Anlass gibt, sich mit dem Thema Nationalsozialismus zu beschäftigen und dem Verdrängen und Vergessen entgegenzuarbeiten. Das taten auch die Fotografen Andreas Gehrke sowie Martin Mühlhoff und Christian Vossiek, indem sie geschichtlich bedingte Leerstellen im Stadtbild Berlins dokumentierten. Die dabei entstandenen Bilder wären ohne ihren Kontext – Gestapo-Terror einerseits, Holocaust andererseits, – auch lesbar, aber erst die politische Dimension macht aus Architektur und Topografie Erinnerungslandschaften.

  

Mühlhoff und Vossiek recherchierten, wo in Berlin sich Synagogen befanden und was mit den zumeist 1938 demolierten Gebäuden anschließend geschah. Diese Informationen werden in einem sachlich informierenden Kurztext dargestellt und von je einem Foto ergänzt. Die bei neutraler Beleuchtung aufgenommenen, menschenleeren Bilder von Freiflächen oder umgenutzten, meist nichtssagenden Alt- oder Neubauten bieten keine optische Sensationen, sind ironiefrei und man kann sie sich kaum in einer Museumspräsentation mit riesigen Abzügen à la Becherschule vorstellen. Die 46 Fotos sind sachlich und sachbezogen und geben ein Bild von der Unsichtbarkeit des Judentums in Berlin. Die drei noch betriebenen Synagogen werden im Übrigen gar nicht gezeigt. Gedenktafeln werden lediglich im Text registriert. Es bleibt bei den Übersichtsaufnahmen irgendwelcher Häuser, Parkplätze und Grünflächen, zusammengehalten durch das unsichtbare Band der früheren Nutzung.

  

Während das bereits mit der ersten Doppelseite deutlich werdende Konzept des Synagogen-Buches keine Fragen offen lässt, ist die Arbeit von Gehrke subtiler angelegt. Schon der Einband zeigt dies: eine Bauchbinde mit einem Schwarzweißfoto eines Waldstücks verdeckt ein auf den Einband gedrucktes und leicht eingeprägtes schwarzes Rechteck. Ein schwarze Loch liegt hinter Bäumen und Büschen – um was mag es da wohl gehen? Die Fotos in dem sorgfältig gedruckten Buch geben in gedeckten Farben, schattenfrei und fern von Waldidyllen Einblicke in eine parkartig Landschaft, die von Schneisen oder Wegen durchzogen ist. Im Hintergrund sind zuweilen Gebäude zu erahnen, im Vordergrund lugen hin und wieder Backsteine und Betonteile hervor. Auf den ersten Blick könnte man das ganze Buch als Versuch abtun, sich an den lakonischsten Vertretern der New Topographics abzuarbeiten, wenn man nicht in der lesenswerten Einleitung von Klaus Hesse erfahren würde, dass es sich bei dem fotografisch portraitierten Gelände um den abgeräumten und dann sich selbst überlassenen Standort der Berliner Gestapo-Zentrale handelte. Das Robinienwäldchen ist Teil der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“. Gehrke bewegt sich mit seinem Buch auf einem schmalen Grad zwischen formaler Beliebigkeit und inhaltlicher Relevanz und trifft genau den richtigen Ton, der das Ganze nicht in eine Wald- und Wiesendokumentation mit grafisch interessant wirkenden Vegetationsstrukturen abstürzen lässt.

Wie soll man mit Stätten der Geschichte umgehen? Von der zur Routine gewordenen, womöglich bereits in alljährlich wiederkehrenden Feierstunden erstarrten Praxis des Gedenkens ist es nur ein kurzer Schritt zum Vergessen. Beide Bücher wirken dem entgegen, indem es den Ist-Zustand von historisch relevanten Orten fest- und damit in der Diskussion hält.

 

  • Titel: Missing Synagogues
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Martin Mühlhoff und Christian Vossiek
  • Textautor: Matthias Reichelt, Dieter Graumann
  • Herausgeber: 
MARTa Herford
  • Gestalter: Martin Mühlhoff und Christian Vossiek
  • Verlag: Kerber
  • Verlagsort: Bielefeld
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 112
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 36,90 Euro
  • ISBN: 978-3-86678-545-8
  • Titel: Topographie
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Andreas Gehrke
  • Textautor: Klaus Hesse, Thomas Seelig
  • Herausgeber: Andreas Gehrke
  • Gestalter: Richard Lange
  • Verlag: Distanz Verlag
  • Verlagsort: Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 130
  • Bindung: Hardcover mit ilustrierter Bauchbinde
  • Preis: 49,90 Euro
  • ISBN: 978-3-942405-30-0

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