Jedes Bild ein Ereignis

Der Name des Fotografen John Myers dürfte bislang außerhalb Großbritanniens nur Spezialisten geläufig gewesen sein. 1974 erschien das erste selbstpublizierte Fotobuch des 1944 geborenen Künstlers. Nur wenige Jahre in den siebziger und frühen achtziger Jahren war er mit seiner Großformatkamera unterwegs und porträtierte Menschen, Landschaften und Städte Mittelenglands; ansonsten arbeitete er als Kunstprofessor und Maler.

Die komplette Serie seiner fotografierten Portraits, die vor allem aus den Jahren 1972 und 1973 stammen, erschien jetzt in einem in jeder Beziehung perfekten Buch. In kleiner Auflage hergestellt von der besten skandinavischen Druckerei entfaltet das von Dan Mogford zurückhaltend gestaltete Buch einen Sog, dem man so schnell nicht entkommt.

Myers´ Methode ist nicht neu und wurde und wird auch von anderen angewendet: die Personen sind ganzfigurig vor einem Hintergrund ihres persönlichen Umfelds platziert, schauen ruhig und gefasst in die Kamera, werden dabei aber nicht voyeuristisch entblößt, sondern als Individuen wahrgenommen und dokumentiert, eben porträtiert im besten Sinne. Aber Myers erlaubt sich immer wieder kleine irritierende Momente, wenn beispielsweise ein Schlips an der Tischkante hängenblieb, im Hintergrund Sofas schweben oder eine seltsame Kaminofenkonstruktion neben Mrs. Tate einbezogen wird. Zuweilen spielen Zimmerpflanzen eine wichtige Rolle, oft werden Größenvergleiche arrangiert. Das Bildpaar „Young Boy“ zeigt einen Jungen in einer Hofecke aus Backsteinwänden mal unsicher ohne, mal selbstbewusst mit Fußball. Selbst eine Giraffe in ihrem Stall mit den hoch hängenden Heizkörpern behauptet sich als Individuum, auch wenn sie gerade nicht zum Fotografen schaut. Dieses Ausnahmebild liegt jedem Buch als signiertes Original im Format eines Kontaktabzugs des 5×4” Negativs bei!

Jedes Bild ist ein Ereignis und in der Summe werden nebenbei die siebziger Jahre im Spiegel der kleinen Leute lebendig. Die Serie liegt kein hochtrabendes Konzept zur Beschreibung ganzer Zeitalter, Gesellschaftsschichten oder „Stände“ (à la Sander) zugrunde, sondern zeigt ganz unprätentiös einen Ausschnitt – der bescheidene Myers hat damit alles richtig gemacht, die Frage ist nur, warum er mit der monografischen Publikation dieser Arbeit so lange gewartet hat.